Freitag, 31. Dezember 2010

Hof Geschichten


1.  Boris im Höschen mit Bierchen. Eine tiefe Stimme.

Es macht den Nachbarn offensichtlich gar nichts aus, dass es in ihrem Hof jetzt wie auf einem Übungsplatz aussieht.  So hat der Volksmund (in der Gestalt des ‚Hundemannes’) den Ort heruntergestuft.  Vor allem Boris ist ungeniert.  Die Frauen der Familie drücken sich zusammen auf der grünbezogenen Stufe der nachgemachten bayrischen Alpenhütte hinten am Drahtzaun.  Eine Insel mitten im Unrat.  Boris und sein Freund setzen sich an die sandige Grenze zwischen dem alten Grundstück und dem Anschluss-Grundstück.  Nur in Badehöschen, in ihre Gartenstühle tief verankert, die Köpfe ins strenge Licht der untergehenden Sonne getaucht, heben sie gleichzeitig ihre Bierflaschen und trinken auf die Gesundheit der Sonne. 


Die keusche Inszenierungen des kleinen Mannes:  Dort wo die Scheune nicht mehr steht ist eine Schein-Mauer errichtet worden, eine Kulisse aus grauen Zementblöcken (nicht gemauert, nur aufeinander gelegt), auf der längliche Blumentöpfe und Gartenschmuck ausgestellt sind.  Die ‚Mauer’ sollte wenigsten den Passanten-Blick (von der Straße aus) auf die dahinter liegende Verödung abfangen.


2.  Anweisungen zur Vernichtung eines Hofes

Man fängt mit der Aufstellung von schweren Gegenständen am äußersten Rand des Hofs an.  Wie zum Beispiel ein Gerüst.  Aber weil das Gerüst noch eine relative schmale Fläche des Ganzen beansprucht, nur dort wo gerade das Gestell aufsitzt, ist die Vernichtungsabsicht noch gut getarnt.  Die Tarnung der ersten Angriffe ist erforderlich, um Zeit für die Vorbereitung der notwendigen schweren Folgemaßnahmen zu gewinnen.  Sie sind:  das Heranschleppen von großen Tonnen, die jetzt auch mitten im Hof platziert werden. Die Tonnen werden mit teerartigen schweren Flüssigkeiten gefüllt und dadurch unverrückbar gemacht.  Gleichzeitig wird pulverisiertes Mauerwerk über den Hof  verstreut.  Das meiste Mauerwerk wird dennoch am Rand deponiert.  Mit der Zeit entstehen Verbindungslinien zwischen Rand und Mitte, vom Mauerwerk markiert und durch Schleifspuren von langen Brettern fest eingegraben.  Leere Flaschen sind zusätzliche Wegweiser.  Der Weg ist jetzt frei für größere durch das Vorhergehende nicht vorbereitete Zerstörungszüge.  Das Ausschütten von kompakten Kieshaufen seitlich neben den Tonnen, zwischen Tonnen und Rand, ist dafür geeignet.  Wenn die Hofeigentümer bis jetzt noch um Rücksicht und Behutsamkeit gebeten haben, die Kieshaufen sind dazu geeignet ihre letzten verlöschenden Proteste zu ersticken.  








Dienstag, 17. August 2010

Das Bestellbuch


An dem Bestellbuch allein, kann man erkennen, dass der kleinstädtische Musikalienladen nur widerwillig den Kunden ihre Noten beschafft.  Zerfleddert ist kein Wort mehr.  Auch ausgestrichen und verstrichen nicht.  Das Buch ist schon zum Fünffachen seiner normalen Größe angeschwollen.  Die Seiten des Buches ertrugen schon jegliche Variation des ärgerlichen Knickens und falsch herum Zurückschlagens.  Die Anweisung ‚E-Dur’, die ich meiner Bestellung der Toselli-Serenata hinzugefügt habe, hebt sich kaum von den dicht gewebten Linien-Wirbeln ab.  Das letzte Mal behauptete der picklige hochgewachsene Ladenhüter mit Pferdeschwanz, dass mit der Post schicken teuer und nicht üblich sei.  Wenn überhaupt, dann nur per Nachnahme, dann kämen die Portokosten und Verpackungsmaterial dazu.  Jene abschreckenden Behauptungen wurden von einer Frau, die mehr wie eine Chefin aussah, absolut widerlegt, als ich an einem anderen Tag meine Frage wiederholte.  Das ‚umsichtige Besorgen’ ist in sich eine Gewissensprüfung.  Wo liegt diese verzauberte Zeugwelt in seiner ‚Zuhandenheit’ – wo alles Dir einfach zufliege und auf dem Leib geschnitten sei – wovon Heidegger in „Sein und Zeit“ das Märchen erzählt?  
 
An der Theke - zu allem Überdruss - lauert das drohende klagende Schild, das von großen Verlusten berichtet, die durch Kunden, die ihre Bestellungen nicht abholen, verursacht werden.  Deshalb gäbe es ab jetzt immer eine Bestellungsnummer.  Ich bin mir gar nicht sicher, ob man noch telefonisch bestellen darf.  Meine Bestellung habe ich noch in der Zeit vor der Einführung des Nummernsystems gemacht.  Dennoch fragen sie mich jedes Mal ob ich eine Nummer habe und schauen mich dabei prüfend an, - wie jemand der potenziell nicht abholen wird.  





 



Donnerstag, 12. August 2010

Baumschule

 
Die hingefallenen Pflanzen im Gewächshaus wachsen auf der Erde unterhalb der Ausstellungstische.  Das neue Haus.  Das alte Haus und die Scheune dahinter.  Ungefähr die Farbe vom nassen Sand.  Sieht wie ein Lager aus.  Unüberschaubare Reihen von Pflanzen.  Es wirkt gleich bedrohlich.  Der erste Trakt am Eingang enthält halb leere Reihen, umgekippte schwarze Töpfe, wirres pflanzliches Zeug.  Die Stellen sind unnahbar.  Eine verlassene Siedlung, halb kultiviert, schon verwildert.  Die bewohnten Reihen der Schule sind ein wenig freundlicher.  Man ahnt die Größe der Fläche, aber man kann sie nicht mit dem Auge erfassen.  Eine schräg abfallende Allee von Tannen in der Entfernung erweckt die Vorstellung von einer schlechten Unendlichkeit.

Wir wagten uns nicht sehr weit nach vorne.  Alles war im Überfluss, von der Sorte, die den einzelnen Menschen sehr schnell überwältigt.  Zinnkraut wächst irgendwo unpassend.  Aus Pflanzenresten entstehen neue Pflanzen – Seelenwanderung und Mutation zugleich.  Wir kaufen ein japanisches Geißblatt, das für uns noch blühen soll.  Verschlafene junge Männer und Frauen sollten bedienen.  Sie sind vom pflanzlichen Reichtum ähnlich überfordert wie wir.  Dennoch weiß einer von ihnen, nach einer Verzögerung, dass hinter irgendwelchen Stauden ein noch größerer Lavendelstrauch sich befinde.  Vieles ist gelb und trocken, das noch auf einen Käufer harrt.  Offensichtlich sind Verluste fester Bestandteil der Kalkulation.  In Gewächshäusern, wo die Pflanzen nur für sich einatmen und ausatmen, stehen Bäume auf Rädern.  Ein Mensch soll lieber draußen bleiben.  Wir haben uns an Knöterich und sonstigen Kletterpflanzen vorbeigerieben, ohne dass sie grüne Schlingarme nach uns ausstreckten.  Aus der Backe der blonden Verkäuferin sprießt ein einzelnes weiß blondes Haar.  





 
  
 



Montag, 19. April 2010

Das Periodensystem der Elemente


Strindberg riskierte seine Gesundheit, seinen Ruf, sein eheliches Glück, er erlebte Wahnsinn und Verachtung um beweisen zu können, dass Schwefel in noch elementareren Einheiten auseinander zu brechen ist.  Er irrte.  Oder wenigstens im Periodensystem der chemischen Elemente hat Schwefel immer noch die Kernladungszahl (Ordnungszahl) 16.  Was ist die Beschaffenheit eines solchen analytischen Triebes - gegen die Elemente selbst ankämpfen zu wollen?  Warum wollte er zeigen, dass das Ur-Element Schwefel aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff besteht?  Die Analyse duldet keinen Stillstand, kein Ende, keinen Punkt an dem es heißt, man müsse aufhören.  Lieber schneidet der Analytiker sich selbst auseinander (so wie Van Gogh sein Ohr analysierte) als das Analysieren abzubrechen.  Strindberg verlor beinah seine Hände bei seinen Schwefel Experimenten.  Der Analytiker will hinter die Dinge kriechen; wo andere nur Oberfläche ohne Fenster oder Öffnungen sehen, findet er lauter Abgründe.  Wie verhält sich dieses Gemüt (diese Veranlagung) der Behauptung Poes gegenüber, die Wahrheit sei an der Oberfläche, nicht in der Tiefe zu finden?  Und dass man weniger sehe, wenn man sein Auge auf einen Gegenstand direkt richte, sowie auf einen Stern, als wenn man ihn nur seitlich streife?

Der Erpresser merkte nichts vom Toben der Elemente – dem Regen, dem Wind, der Masse, dem fehlenden Schnee.  Er befand sich in der beneidenswerten Lage so von seiner Aufgabe durchdrungen gewesen zu sein, dass es nur in seinem Inneren Wetter gab.  Er fragte nicht nach dem Sinn des Seins.  Man kann diese Frage nur stellen wenn ein Sinn nicht vorhanden ist. 
(Strindberg stellte die Frage nach dem Sinn von Schwefel – kam aber nicht weiter.)

Heidegger dagegen meint, wenn man diese Frage nicht stelle, schließe man sich selbst von Dasein aus.  Anders gesagt, man ist unfähig diese Frage nicht zu stellen, weil es zum Charakter von Dasein gehöre gerade diese Frage immer schon gestellt zu haben.  Er antizipiert den Vorwurf des Zirkels, lenkt die Aufmerksamkeit auf einen anderen Zirkel, den er leicht entkräften kann.
Den Zirkel, auf den Heidegger wie ein Zauberer hinweist, ist eher logisch, impliziert nur formelle Mängel der Deduktion –wie wenn man die Antwort auf eine Frage als Grundlage des Erörterns von eben derselben Frage voraussetzt.  Seine Untersuchung baue sich aber nicht in herkömmlicher Weise auf Prinzipien auf, sie ist eine „konkrete“ – deshalb kann er leicht jene „formale(n) Einwände“ selbst ansprechen.  „Die ausdrückliche und durchsichtige Fragestellung nach dem Sinn von Sein verlangt eine vorgängige angemessene Explikation eines Seienden (Dasein) hinsichtlich seines Seins.
Fällt aber solches Unterfangen nicht in einen offenbaren Zirkel?  Zuvor Seiendes in seinem Sein bestimmen müssen und auf diesem Grund dann die Frage nach dem Sein erst stellen wollen, was ist das anderes als das Gehen im Kreise?  Ist für die Ausarbeitung der Frage nicht schon „vorausgesetzt“, was die Antwort auf diese Frage allererst bringen soll?“ (Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 1986, p. 7)

Es liegt dennoch ein ‚Zirkel’ vor – der Zirkel des Fragens.  Jene Voraussetzung des Fragens, als ontologisch-vorontologische Bestimmtheit des Daseins ist der eigentliche Heidegger-Zirkelbeweis.
Heidegger nennt sein einleitendes Kapitel „Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein“.  Jene Frage, die er zum Gegenstand der gesamten Untersuchung hervorhebt, ist schon ein Teil des unbekannten Seins, das untersucht werden sollte  - wobei Heidegger  ohne Begründung die Frage nach dem Sinn des Seins und die Frage nach dem Sein vermengt.  ‚Sinn des Seins’ wiederum, in Heideggers Sprachgebrauch, schwankt unaufhörlich zwischen etwas fast Faktischem, ‚Konkretem’, Phänomenologischem und etwas nur Sprachlichem, der Erläuterung eines Begriffes.

Noch mehr, das Fragen dieser Frage nach dem Sein oder Sinn des Seins ist das Besondere am Dasein – macht Dasein zu einem immer schon ontologischen Charakter.  Dasein ist selbst eine ‚wilde’ Ontologie – eben weil es diese Frage in seinem Sein zwangsläufig mitführt.  So ist Heideggers Untersuchung nur deshalb ‚konkret’ – weil er ein ‚faktisches’ Dasein als eine sich selbst untersuchende Untersuchung voraussetzt.
„Das Fragen dieser Frage ist als Seinsmodus eines Seienden selbst von dem her wesenhaft bestimmt, wonach in ihm gefragt ist – vom Sein.  Dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein.“ (ibid.)
Wenn Dasein immer schon die Frage nach dem Sinn des Seins gefragt haben müsste,  wie kann diese Frage, wie Heidegger am Anfang seiner Untersuchung  bedauert, „in Vergessenheit gekommen“ sein?  Wenn während der ganzen Zeit seit der Ontologien der Antike, bis nach Heidegger gelebt wurde, ohne diese Frage gestellt zu haben – dann würde es heißen, dass während dieser Zeit Dasein im Heideggerschen Sinn nicht existiert hat.  Demnach ist Heideggers Dasein-Begriff nicht überzeitlich, sondern historisch spezifisch.   

Adorno findet den Heideggerschen Zirkel in den ‚konkreten’ Welt-Verhältnissen wieder – im Kreditsystem, das selbst wie ein Zirkelschluss funktioniert:  „Heideggers Philosophie, bei aller Aversion gegen das von ihm so genannte Man, dessen Name die Anthropologie der Zirkulationssphäre denunzieren soll, gleicht einem hoch entwickelten Kreditsystem.  Ein Begriff borgt von anderen.  Der Schwebezustand, der damit sich herstellt, ironisiert den Gestus einer Philosophie, die so bodenständig sich fühlt, (...) Wie nach einem verblichenen Witz der Schuldner gegenüber dem Gläubiger im Vorteil sich befindet, weil dieser davon abhängt, ob jener zahlen will, so rinnt für Heidegger Segen aus allem, was er schuldig bleibt.  Daß Sein weder Faktum noch Begriff sei, eximiert es von Kritik.“ (Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, 1982 pp. 83-4)

Obgleich Wittgenstein wie Heidegger die Metaphysik ‚beerdigen’ wollte, hatte er eine entgegengesetzte Einstellung zum Fragen.  Seine Strategie ist die Philosophie zu ‚beruhigen’ – die Unruhe der Philosophie ist ein Ergebnis ihrer Neigung überflüssige Fragen zu stellen, auch über sich selbst.  So heißt es in Paragraph 133 der „Philosophische Untersuchungen“:  „Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Philosophie zur Ruhe bringt, sodaß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen.“ (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Stuttgart, nach der Oxford Ausgabe von 1958, p. 347)  So gesehen, ist Heideggers Dasein, jener Charakter der sich selbst in Frage stellt auf der Suche nach dem Sinn des Seins, eine verschlüsselte Figur der Philosophie.  Sein ontologisch-vorontologisches Wesen - der Philosoph.  Vielleicht der Grund weshalb Heideggers „Daseinsanalytik“ in einer aporetischen Statik aus das Man, Inbegriff der fraglosen Durchschnittlichkeit und Dasein verfällt?  „Sein jedoch , das kein Begriff oder ein ganz besonderer sein soll, ist der aporetische schlechthin.  Er transformiert das Abstraktere ins Konkretere und darum Wahrere.“ (Adorno, op. cit.)

Badiou, der sein ontologisches System von Heidegger ableitet, hat das Fragen mehr oder weniger abgeschafft.  Für ihn gibt es keine Notwendigkeit der Frage nach dem Sinn von Sein.  Dasein hat er auch beseitigt, stattdessen herrscht „das Generische“ – was den früheren Platz des Man übernimmt.  Weder die Heideggersche Frage noch der Fragestellende ist übrig geblieben.  Die Ontologie ist nur noch eine Antwort – ‚Sein = Mathematik’. 

Der Erpresser wirft sich auf das fremde Leben.  Er entdeckt darin was verdeckt bleiben sollte – hebt das Verdeckte an die Oberfläche.  Er arbeitet kontra-analytisch.  Er eliminiert die Tiefe, statt von ihr geschluckt zu werden.  Vorher führte das Objekt der Erpressung ein Doppelleben oder wenigsten ein Leben und ein Rest-Leben.  Aber das ‚Überschuss’ Leben ist nur Schein.
Alles gehört doch zu einem Leben.  Nur weiß die Allgemeinheit davon nichts.  Alles hat die Erscheinung von Oberfläche.  Ist das Verdeckte der Sinn des offen gelegten Teils oder umgekehrt?  Der Erpresser reiht seine Photographien aneinander, schneidet die abgelauschten Gespräche zusammen, ordnet seine entwendeten Briefe.  Er betreibt seine Arbeit ohne daraus einen Sinn entstehen lassen zu wollen.  Eine Übermacht? Einen Profit vielleicht?  Ist Profit ein Sinn?  Gibt es nur einen Sinn?  Kann es nicht eine Vielfachheit von Sinn geben?  Die Rekonstruktion eines Lebens, dass vermutlich genauso gelebt wurde  ist die pure Verdoppelung.  Kierkegaard würde diese Verdoppelung eine Wiederholung nennen.  In der Rekonstruktion liegt schon ein zweites wenn nicht schon ein drittes Leben.  Das Leben des Konstruktors.  An seiner Konstruktion (seiner Schöpfung) selbst hat sich nichts geändert.  Vieles wird er nie wissen.  Dieses gesteht er sich niemals ein  – er muss an seinen eigenen Mythos der Allwissenheit glauben.  Er betrachtet seine Konstruktion als nur so alt wie seine eigene Teilnahme daran.   









 
 


Dienstag, 16. März 2010

Der Heilige Zenobius


Das Kind war schon oft beim Heiligen gewesen.  Es bekam Groschen um süßes Wasser kaufen zu können.  Das Wasser war grün oder rot und der Rand des Kruges stets von Fliegenrüssel sauber geleckt.  Eines Tages sah der Heilige wie das Kind beinah überfahren wurde.  Er sah nur die Beine des Kinds, seine Kammer lag drei Stufen unterhalb der Straße.  Er sah wie die Hufe eines Reitpferdes um ein Haar das Knie des Kindes geknackt hätten.  Das Kind war im Schlamm ausgerutscht, fasste sich aber gerade noch am Steigbügel.  Es bekam nur einen Tritt vom Reiter. 

Der Heilige war sterbenskrank.  Das Fieber kam öfters, blieb länger, er war zu schwach um seinen Bart zu kämmen.  Seine Finger zitterten und er kratzte sich deshalb öfters im Gesicht.  Er wollte aber nicht scheiden ohne ein letztes Wunder zu vollbringen.  Man kam schon lange nicht mehr zu ihm um seine Fürsprache im Gebet zu erbitten, seinen Segen zu erhalten.  Wenn das Volk nicht ständig mit Wundern gespeist wird, verliert es den Glauben im Ganzen.  Darüber hinaus verbreiteten Intriganten aus Arianischen Kreisen sogar Zweifel an seinen früheren Wundern.  Das nächste Mal, dass er die Stufen seiner Zelle hoch steigen würde, wird es nur auf der Bahre sein.  Er fasste einen Entschluss.  Das Kind sollte zum Schein sterben, unter das Rad eines Leiterwagens rollen.  Der Heilige würde sich aufraffen, seinen Bart kämmen, er würde zum richtigen Zeitpunkt auf der Straße sein.  Wenn sie das Kind vom Boden aufläsen, es unter dem Rücken fassten, sein Haar die Straße fegte, würden sie ihn den Heiligen anflehen, es wieder lebendig zu machen.  Der Scheintod ist sogar ein noch größeres Wunder als die Wiederbelebung, dachte der Heilige für sich.











Montag, 15. März 2010

Die Waisendecke


Sie war kinderlos und sonst allein.  Sie war die Näherin der Waisen.  Sie nähte ihnen allen ein Paar Waisenhosen mit vielen Taschen, auch Innentaschen, um den Erlös aus kleinen Waisengeschäften darin vor den anderen Waisen zu verbergen.  Sie nähte ihnen eine einzige große Waisendecke.  Die Waisen brachten ihr einen Riesenstapel von Decken, aller Sorten; sie gingen von Haus zu Haus und baten die Leute um ihre alten Decken, auch um solche, die schon im Dreck, unter Hunden die bereits eingeschläfert worden waren, unter Matratzen von Rheumaleidenden lagen.  Selbstverständlich wurden alle Decken der Hospize den Waisen für ihre Waisendecke gespendet.  Die Waisen des Heimes schliefen alle unter einer Decke, kam eine neue Waise dazu, schleppten sie die Decke zur Näherin und sie nähte seine Decke zur großen Decke dazu.  Die Waisen waren alle mutterlos und vaterlos, deshalb wollten sie gerne alle in einem Bett unter einer Decke schlafen.  Für jene Waisen die in der Mitte schliefen gab es manchmal Atemschwierigkeiten.  Sie hatten es öfters an der Brust und durften dann mit einer Randwaise zeitweilig tauschen.  Klügere Mittelwaisen schnitten sich einfach Atemlöcher in ihre Decke.  










Sonntag, 14. März 2010

Der nachlässige Hausierer


Mir ist das Verkaufen so leid geworden, dass ich nur hin und wieder daran denken kann, aber dann auch nur äußerst ungenau. Dennoch, je weniger man daran denkt, um so besser läuft es, so dass mein Leid direkt dazu beiträgt, das Geschäft, das mir so lästig ist, zu vermehren, was die Fähigkeit nicht daran zu denken aufs äußerste strapaziert.  Deshalb weiß ich nicht, ob ich schon hier bei Ihnen gewesen bin und auf welche Art Sie mich damals empfangen haben, das nächste Mal wird sowieso frühestens in 5 Jahren sein.  Heute morgen waren alle Preise noch voll, im Lauf des Tages sind sie so geworden, als wären die 5 Jahre schon um, Ihr Haus schon völlig verwandelt, diese Luftaufnahme, das letzte Andenken eines verlorenen Freundes.  Ich bringe Ihnen sein erloschenes Lebenszeichen, noch dazu in den mittäglichen Farben, schon ist die Vorstellung das einzig Übriggebliebene vom Ort des Glücks.  Es war nur ein Saisongeschäft.








Donnerstag, 18. Februar 2010

Wille zur Endlichkeit

Die Endliche Masse – Das Zerfallende Objekt

Heutzutage verkörpert die Masse den Willen zur Macht.  Ein ‚Übermensch’ existiert nur dann, wenn er seine Zugehörigkeit zur Masse unaufhörlich beweisen kann.  Sobald er von der Masse abrückt, fängt sein Untergang an.  Zwangsläufig ist dieser auch der Untergang der Masse.  Das alles mag eine Weile dauern.  Mit dem Willen zur Macht der Masse entsteht ein neuer Machtbegriff – weder göttlich noch mythisch auch nicht politisch – aber endlich.  Von Nietzsche erfährt man viel über Willen zur Macht, wobei die Betonung immer auf Willen sei.  Über die Art der Macht gibt er wenig Auskunft.  Wie in „Menschliches, Allzumenschliches I“ im Abschnitt 460. „Der grosse Mann der Masse“, dort schreibt er: „Die Masse muss den Eindruck haben, dass eine mächtige, ja unbezwingliche Willenskraft da sei; mindestens muss sie da zu sein scheinen.  Den starken Willen bewundert Jedermann, weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt, dass, wenn er ihn hätte, es für ihn und seinen Egoismus keine Gränze mehr gäbe.“  Die Macht scheint hier dem Egoismus eng verwandt zu sein -  vor allem in seiner Begrenztheit.  Vom starken Willen des großen Mannes erhofft die Masse die Aufhebung der Grenze seines eigenen Egoismus.  Dabei aber entsteht noch keine unbegrenzte Macht – die Macht ist immer durch die Art der Begehrlichkeit der Masse beschränkt.  Sie ist eine endliche Macht.

Solch eine Masse gibt es erst als Aktualität und Möglichkeit seit dem Sturm auf die Bastille.  Es ist nicht eine Frage der Quantität.  Eine Person kann schon eine Masse für sich sein – wie Tibull sagte, in solis sis tibi turba locis. ( Sei in der Einsamkeit dein eigenes Volksgetümmel.  Tibull, Eleg., IV, XIII, 12)

Bedrohlich wird es  dann wenn die Masse dir wie ein Doppelgänger zusetzt, der dich von deinem Vorhaben abzuhalten versucht als sei es sein eigenes – so wie es in Kafkas Erzählung „Entlarvung eines Bauernfängers “geschieht.  „Sie stellten sich vor uns hin, so breit sie konnten; suchten uns abzuhalten von dort, wohin wir strebten; bereiteten uns zum Ersatz eine Wohnung in ihrer eigenen Brust, und bäumte sich endlich das gesammelte Gefühl in uns auf, nahmen sie es als Umarmung (...)“

Die Masse begreift sich (und sie erfährt keinen Widerspruch) als höchstes Gut.  Ihre Herrschaft über die ganze Welt auszubreiten ist der Wunsch der Masse.  Die vergangenen Reiche basierten auf Berufsarmeen, Herrscher und ihre Höfe.  Die Masse existierte nicht – Francis Bacon nannte sie „commons“, von ihnen hatte der Herrscher wenig zu befürchten, „außer dort wo  sie große und einflussreiche Oberhäupte haben; oder wo Du Dich in den Punkt der Religion einmischst, oder in ihre Gewohnheiten oder in ihren Lebensunterhalt.“ 
(„...there is little danger from them, except it be where they have great and potent heads; or where you meddle with the point of religion, or their customs, or means of life.“  „Of Empire“ in Bacon’s Essays, New York, 1909, p.160)

Die wiederkehrenden Aufstände wie die Bauernkriege wurden hauptsächlich von Berufsverbänden angezettelt.  Sie hatten eindeutige Forderungen.  Cromwells Armee stellte eine frühe ungewöhnliche Kreuzung aus Masse und Berufsverband dar.  Die „New Model Army“ entstammte einer losen Bevölkerungsgruppe der ‚herrenlosen Männer’.  Sie verwandelte sich im Verlauf der englischen Revolution in einen Berufsverband um nach dem Scheitern der Revolution sich wieder in Nichts aufzulösen.  Die Endlichkeit der Armee-Masse versteckt sich hinter ihrer Verlorenheit im doppelten Sinn (Niederlage und Verschwinden).  So ähnlich verbirgt Badious Schlüsselbegriff – „Treue zum Ereignis“ (wie zum Beispiel zur Revolution von 1917) – ein heimliches Geständnis der Endlichkeit.  In Badious Darstellung schwebt die „Treue“ eines „Subjekts“ in der „Situation“ unentwegt zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit.  Dennoch, gäbe es keine Endlichkeit des Ereignisses wäre die Treue überflüssig.  Sein Begriff der „Treue“ ist eine getarnte Endlichkeit.  Er löst deshalb jede spezifische Treue zum historischen Ereignis in der Treue des endlichen Subjekts zum Ereignis seines Selbst auf – „(...)let’s be faithful to the event that we are.“ (Being and Event, Übersetzung von Oliver Feltham, London, 2007, p.236)
Man könnte Badious „Treue zum Ereignis“ auch als eine quasi-mathematische Umschreibung Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sehen – wobei ‚verloren’ gleich ‚endlich’ zu verstehen wäre.

Die Masse selbst weiß nicht was sie will.  Sie will nur weiter fortbestehen (wie Canetti sagt) im Gefühl des unbedingten Herrschens und Begehrens.  Jedoch, weil die Masse endlich, der Wille der Masse in seinem Sein zu beharren unendlich ist, erlebt die Masse ihre zerfallende vorläufige Natur als ein Rätsel.

So wie früher der König derjenige gewesen ist, der viel zu befürchten und wenig zu begehren hat, befindet sich heute die Masse in jenem königlichen Zustand des unklaren und dahinwelkenden Bewusstseins. 

Der Führer der aus ihren Reihen aufsteht und von ihnen getragen wird, muss die Fähigkeit besitzen professionell und hauptamtlich das endliche begehrliche Massengefühl vor dem Zerfall zu bewahren.  So gesehen wäre nach Badious System jener Führer das einzige treue Subjekt des Ereignisses ‚Masse’. 
 

„Trinitarische Formel“

Die Macht ist oft kraftlos.  Sie muss keine Kraft entwickeln, sie ist jenseits der Kraft.  Die Kraft, die sie im Voraus verausgabte um erst Macht zu werden, verschwindet in der Macht selbst.  Sie wird nie wieder einen solchen Kraftaufwand benötigen.  Auch wenn Macht zu wachsen scheint, tut sie es bei absteigendem Kraftaufwand.  Daher erklärt sich das Phänomen, dass mächtige und übermächtige Gebilde, so leicht zu stürzen sind.

Widerstand dagegen ist der pure Kraftaufwand, aus der Machtlosigkeit heraus.  Zum Widerstand bedarf es eines außerordentlichen Quantums an Willen oder an Willensstärke.  Deshalb ist der Begriff – Wille zur Macht -  eigentlich sinnlos, bedeutungslos.  Wenn man Macht hat, braucht man den Willen nicht.  Nur wenn man keine Macht hat, was heißt, dass man von bestehender Macht daran gehindert wird, Macht zu haben – dann braucht man den Willen, nicht zur Macht, sondern zum Widerstand.  Macht ist der Trägheit (Inertia) verwandt.  Macht ist kein dynamischer Begriff.  Deshalb sind alle Direktoren im Kafkas Schloss so müde. 

Es gibt keinen Widerstand in der Welt des Unfall-Gehülfens – weil sie eine Welt der puren Macht ist.  So wie im luftleeren Raum – da fliegen die Flugzeuge am besten, weil kein Luftwiderstand sie daran hindert. (siehe Experimenten Buch)  Überhaupt, die Welt der puren Macht ist eine Welt ohne jegliches Hindernis.






Dienstag, 26. Januar 2010

Das Defätistische Objekt



1.  In der sichtbaren Verwahrlosung von Gegenständen und Orten wendet sich Accidia nach außen.  Sie ist erfinderisch im Schaffen von Plätzen für sich im Freien, von Ausgängen und Ausflüchten.  Ihr Instrument ist das Wunder des Tunlosen Tuns.  Nach außen gekehrt verselbständigt sich Accidia im defätistischen Objekt.  Deshalb ergreift uns der Anblick von Ruinen – wir ahnen die unbezifferte Menge nachlassender menschlicher Kräfte die dazu geführt hat.  Die Verwahrlosung ist gleichzeitig eine Aktion und ein Zustand – beide negativ.  Die Aktion ist die Aufgabe (Preisgabe), man lässt sich und das Objekt gehen.  Beides geschieht gleichzeitig.  Die Verwahrlosung ist die verkleinerte allmähliche Form der Ruine, die Weise in der sie fortschreitet.  So bewegt sich die Ruine sich selbst entgegen.  (Der Anblick von ‚menschlichen Ruinen’ erregt eher Mordgelüste.  Der nach dem Leben seiner Frau trachtenden Schuldirektor in Clouzots Film „Les Diaboliques“ verhöhnt sie als „la petite ruine“.)


Die Ästhetik ist eine Art Ruine oder Zerfallserscheinung der Ontologie.  Sie zersetzt das ‚Ontologische’ des Objektes.  In dem Maß wie das Objekt von sich selbst Abschied nimmt, so wird es ästhetisch.
Im Ästhetischen verdreht sich das Negative in ein Positives.  Weil das Negative keine Seinskategorie sondern eine Bestimmung des ästhetischen Objektes geworden ist.  Das Ästhetische entsteht wo der Widerstand des prä-ästhetischen amorphen Objekts zerbröckelt, zerfällt.  Wo das Objekt defätistisch wird – dort fängt es an ästhetisch zu werden.  So gesehen ist die ‚Logik des Zerfalls’ (Adorno) eine Ästhetik. 


In einem stillgelegten Blog („The Gay Recluse“) entdeckte ich Bilder von einem ‚Geister-Pittsburgh’.  Gezeigt wurden die ‚mystischen’ Reliquien einer bescheidenen Glückskonjunktur, als an den Durchgangstraßen billige Grill-Restaurants, Motels, Drive-Ins, Kegelbahnen und Verleihgeschäfte eine Weile gewinnbringend betrieben worden waren.  In den Bildern sieht man noch die Reklame-Schilder an ihren hohen dunklen Stangen hängen – die eigentlichen ‚Geister’ - mit ihren fehlenden oder halb-zerstörten Buchstaben, undefinierbaren Flecken und abblätternden Farben - die Grabinschriften, – die gelblich verrußten Backstein Häuser im Hintergrund aus denen das wilde Gras sprießt - die Mausoleen.  Übriggebliebene Telefon Leitungen verbinden nur noch zur Unterwelt. 


Warum sind solche Ruinen-Bilder auf einmal ästhetisch?  Wahrscheinlich zu ihren guten Zeiten waren die lebenden Geschäfte schäbig und ordinär gewesen - wo man nur schlechtes Essen, misstrauische, scheele, aufdringliche Blicke, eine mürrische Bedienung, lauwarmen Kaffee und ein nie bis zum Rand gefülltes Glas Bier erwarten konnte.  Geister sind solche Orte nur im technischen Sinn – jene Szenen sind eigentlich entseelt.  Sie sind Landschaften wo der Weltgeist, in seiner hiesigen Hauptform als Kapital, schon lange weggezogen ist.  Jeder Hauch von Ereignis hat aufgehört zu wehen.  Die Betrachtung solcher Gegenden, wo die unermessliche Entfernung des Weltgeists sichtbar wird, macht melancholisch – daher die Notwendigkeit des Bild-Fetisches – um die Erlösung selbst als Abwesenheit qua Fetisch wieder in unmittelbare Nähe zu rücken.  Jedes „Willkürliche, Zufällige, Individuelle“ kann als Fetisch dienen und gleichzeitig sich selbst sein – „(...)unser Weltorgan werden - ‚Epoche’ in unserm Innern machen -  Dies ist der große Realism des Fetischdienstes.“ (Novalis, Neue Fragmente 259, in: Werke und Briefe, Stuttgart, 1962, S.459)



2.  Die in defätistischen Gegenständen und Szenen aufgehobene Accidia ist überall zu sehen.  Der Fortschritt des Zerfalls verläuft aber nicht geradlinig.  Er schließt Reparaturen, vorübergehende Auffrischungen nicht aus.  So werden die Verwahrlosung, und der damit verbundene Rückzug des Willens, nur umso deutlicher.


In einer deutschen Kurstadt wo die Zermürbung gleichsam in ihrer ‚Champagner Luft’ liegt, schaute ich vom Balkon eines Kurarztes in einen halb luxuriösen Garten hinunter.  Man konnte den Garten von einer Treppe aus erreichen.  Rechts war eine hohe Hecke und Mauer.  Sie schirmten den Garten von der Hauptstraße ab.  Etwas links vom Balkon war eine gepflasterte Terrasse, die Fliessen sahen ausgesucht aus, alt, restauriert.  Ein viereckiges Steinbecken mit Wasser, eine Marmorplatte auf einem gusseisernen Fuß.  Eine Plastikflasche (wahrscheinlich ein Putzmittel) stand darauf.   Ganz in der Ecke befanden sich ein Teich und eine Grotte.  Irgendwo floss Wasser.  Eine Korbschaukel stand im Schatten eines Baumes.  Der Rasen um den Teich und Baum war weggescharrt – gelbe rissige Erde.  Auf einen sandigen Platz  jenseits der Terrasse standen verwitterte Holzgestelle.  Auf den Gestellen  -  zwei Terrakotta Säulen.  Ein Mann schliff an einem schwarzen Sockel.  Er war dünn.  Eine Veränderung am Sockel war aus der Entfernung nicht zu erkennen.  Wo die Sockel hingehörten war auch nicht erkennbar.  Er bemerkte, dass ich ihm bei der Arbeit zuschaute.  Es war schwer zu sagen, ob er ein Handwerker oder der Besitzer dieses restaurierten Hofes war, der schon wieder verwahrlost aussah.  Obgleich dieser Eindruck sich auf nichts Bestimmtes zurückführen ließ.  Vielleicht war es wegen der unpassenden Plastik Gartenstühle neben der auf der Erde quer liegenden Säule?  Das Gefühl, dass selten um diese Grotte oder auf der Terrasse gesessen wurde?








Sonntag, 10. Januar 2010

Auf Wolken Ruhen (Zweierlei Accidia) I



Wenn die heroische Leidenschaft greift, hebt, antreibt und zusammenbindet, ist die Anti-Leidenschaft Accidia der Gemützustand was dem Alkahest am nächsten steht – dem alchemistischen Universalmittel der Auflösung. Was aufgelöst wird ist die Bewegung im Innern wie im Äußeren. Der Mensch neigt sich der Ruhe der anorganischen Welt zu - der Ur-Trägheit. Demnach sollte man die Accidia nicht als ein Laster sondern als einen Naturzustand betrachten – da wo der Mensch seine Zugehörigkeit zur physikalischen mechanischen Welt am deutlichsten aufweist. So könnte man Boschs Darstellung der Accidia als eine der sieben Todsünden ebenso als eine Fibel des Trägheitsgesetzes benutzen. (Goethe hat doch die quadratischen Liebesverhältnisse in „Die Wahlverwandtschaften“ als chemische Verbindungen und Lösungen geschildert – somit hätte er eigentlich auch die Liebenden von aller Schuld und Sühne freisprechen sollen – aber nirgends ist die absolute Logik am Werk.) Wie überall im Leben, nicht nur im Mittelalter, bedarf der Mensch theatralischer, mythischer Umhüllungen der Naturgesetze, vor allem wenn er selbst bloß ein solches Gesetz ist.


Noch dazu ist Accidia besonders schwer zu erkennen. Ob in der Seele oder in der Physik verwurzelt, ist sie schlichtweg die Abwesenheit von ‚Stimmung’ - sie ist die Befindlichkeit der Nicht-Befindlichkeit. Sie passt sich überall dort an, wo es besonders friedlich und aufgeräumt zugeht. Aber selbst mitten in Betriebsamkeit, die insgeheim nur dem rhythmischen Aufschub der jeweiligen Hauptsache dient, lauert auch Accidia. Sie ist selbst Rhythmus, der laut Novalis sich überall, in alle menschlichen Tätigkeiten qua ‚Musik der Gewohnheit’ einschleicht. „In allen Handwerken und Künsten, allen Maschinen, den organischen Körpern, unsern täglichen Verrichtungen, überall: Rhythmus, Metrum, Taktschlag, Melodie. Alles, was wir mit einer gewissen Fertigkeit tun, machen wir unvermerkt rhythmisch. (...) Sollt es bloß Einfluß der Trägheit sein?“ (Neue Fragmente 261 in: Novalis, Werke und Briefe, Stuttgart, 1962, S.457)


Aus der Perspektive der Theater-Psychologie, (die Psychologie der Lebens-Oberfläche), befindet sich Accidia in der Rangordnung der Gemütsverstimmungen noch unterhalb der Melancholie, sogar niedriger als Ennui, weil ohne deren dekadente Verfeinerung, jedoch beiden verwandt. Sie ist die Flucht vor dem Wesentlichen. Obgleich Accidia eher eine plebejische Bewandtnis hat, jene Flucht verschont keine Gesellschaftsklasse. Gerade die oft nacherzählte Geschichte von Fürst Potemkin, Günstling Katharinas, Zarin von Russland, zeigt wie Accidia auch den Gipfel der Macht erbarmungslos befallen kann. Walter Benjamin beginnt seine Abhandlung über Franz Kafka mit dieser Anekdote des vor sich hin dämmernden Fürsten. Der Kanzler Potemkin zieht sich wochenlang in sein Schlafzimmer zurück, lässt niemand zu sich und unterschreibt keine Staatspapiere. Ein gutgläubiger, diensteifriger Sub-Kanzlist namens Schuwalkin bietet sich den Staatsräten an die erwünschten Unterschriften einzuholen. Er tritt in das hoheitliche Schlafzimmer ein, ohne anzuklopfen, reicht Potemkin, der in einem „verschlissenen Schlafrock“ ungekämmt und Nägel kauend am Bettrand sitzt, eine Akte nach der anderen. Er unterschreibt alles widerstandslos, die Akten auf seinen Knien stützend. Wenn der Kanzlist zu den Ministern mit den unterschriebenen Staatsakten jubelnd zurückkehrt, stellt sich heraus, dass sie alle mit den Namen „Schuwalkin“ unterschrieben worden sind. Merkwürdigerweise, als Ernst Bloch dieselbe Geschichte in „Spuren“ nacherzählt, nennt er den kleinen Beamten Petukow. Der in der ‚Melancholie’ namenlos gewordene Potemkin heißt schlicht Jedermann.


So sehr ist dieser Fall ein Standard der Theater-Psychologie geworden, dass sie sich von ihrer Herkunft gelöst hat. „Es wird erzählt...“ schreibt Benjamin, ohne die Quelle anzugeben, - obgleich die Geschichte von Puschkin stammt. Für Benjamin ist jener Potemkin ein Prototyp des trägen, verwahrlosten, versunkenen dennoch, gerade aus diesem toten Punkt heraus, mächtigen Gewalthaber oder Gesetzgeber – ein Grundtyp in Kafkas „Welttheater“.


Das Gemälde von Bosch zeigt einen schläfrigen Mann, der vor dem Kaminfeuer sitzt. Sein Kopf und Hals sind von einer Haube vollkommen bedeckt. Die eine Hand versteckt er im Rock. Ein Kissen im Rücken nimmt ihm fast die Hälfte des Sitzes weg. Das Buch hat er auf der Bank beiseite gelegt. Sein Hund schläft zu seinen Füßen. In vielen Bildern vom ‚Hl. Hieronymus im Gehäus’ (von Cranach d. Ä, Dürer, Vincenzo Catena u.a.) schläft ein Löwe zu Füßen des Meisters; er selbst ist hell wach. Obgleich man die Accidia auch das „Mönchslaster“ genannt hat. Sie überfällt mit Vorliebe jene, die von ihrer göttlichen Berufung überwältigt sind. In Boschs Bild der Accidia ruhen beide Tiere. Die Szene sieht still und geruhsam aus, aber in sich verdorben. Dieses Ruhen bringt keine Erholung des Geistes. Es ist die vergebliche Suche nach dem Ausweg aus der Verwirrung. Eine Nonne mahnt den Mann zu seinen religiösen Exerzitien – sie reicht ihm den Rosenkranz und das Gebetbuch. Wobei gerade diese Tätigkeiten, Nietzsche zufolge, den Sündigen noch tiefer in die Arme der Accidia oder untätigen Ruhe treiben würden. „Die Religion will von Solchen eben nicht mehr, als dass sie Ruhe halten, mit Augen, Händen, Beinen und Organen aller Art: dadurch werden sie zeitweilig verschönert und – menschenähnlicher!“ (Nr 128. Der Werth des Gebetes. in „Die Fröhliche Wissenschaft“, München, 1988, S. 484)


Auf dem Dorf ist die Accidia wenn nicht verbreiteter als in der Stadt, wenigstens leichter zu erkennen. Im Bäckerladen, redete Stephan der Dorf Bäcker, mit Ruß auf der Nase, auf „Mary“ die Verkäuferin ein. Sie würde gerne nicht arbeiten müssen. Er fragt, „was willst Du in der Stube hocken? Die Matratze durchliegen. Mit 40 bist Du dann kaputt. So bist Du erst mit 50 kaputt.“ Sie will schlafen. Wahrscheinlich war sie spät von der Disco nach Hause gekommen. Wenn man Samstagmorgen hinter den Streuselkuchen stehen muss, schwebt das Bett, wie der Heiland in Boschs „Heuwagen“, über den Wolken – unerreichbar und mit allen Farben der Erlösung geschmückt. Diese Vorstellung ist schon der Anfang der Accidia.