Mittwoch, 26. September 2012

Die Pilgerfahrt zum Coletichenbäcker zu Prag (Eine Alte Box Geschichte)



Der Coletichenbäcker zu Prag lebt auf einer äußerst schmalen abschüssigen Gasse im alten Prag.  Er ist fast so alt wie die Gasse, die sehr alt ist.  An manchen Stellen ist die Gasse so eng, dass man nur auf einer Seite in die Häuser hineingelangen kann.  Will man in das Haus Nummer 10 eintreten, muß man durch den Eingang Nummer 7 auf der gegenüberliegenden Seite hineingehen, danach steigt man 3 Stockwerke hoch, wo man einen Durchgang findet.  Der Durchgang ist ein schmaler Holzsteg, so wie sie auf freiem Feld manchmal zu sehen sind.  Er ist auf beiden gegenüberliegenden Fensterbänken fest anmontiert.  Glücklicherweise ist der Weg nur 3-4 Schritte lang – die zwei gegenüberliegenden Häuser berühren sich fast an dieser Stelle.  Es ist nur manchmal unangenehm wenn ein Durchgang, der der eigentliche Eingang eines anderen Hauses ist, ganz oder teilweise durch die Wohnung eines privaten Menschen geht.  Der Inhaber oder Bewohner einer solchen Durchgangswohnung zahlt selbstverständlich weniger Miete.  In manchen Fällen bekommt er für Conciergedienste sogar eine Zusatzzahlung.

Der Laden des Coletichenbäckers zu Prag befindet sich in einem Haus, das man nur so über einen anderen Eingang erreicht.  Nach vielen langwierigen Verhandlungen mit den Bezirksbehörden, bekam der Bäcker die Erlaubnis die Durchgangswohnung als seine Geschäftswohnung zu beziehen.  So störte seine rege Laufkundschaft nur ihn und sonst niemanden.  Er selbst bewohnte die Wohnung nicht.  Sein verarmter Onkel Fritz, von dem er das Handwerk gelernt hatte, bewohnte die Durchgangswohnung.  Seit Onkel Fritz unter der ‚Mehllunge’ litt, konnte er die Coletichen nicht mehr backen.  Er musste seine eigene Bäckerei aufgeben – so lebte er von der Großzügigkeit seines Neffen.

Wenn man den Laden nicht kennen würde, hätte man große Schwierigkeiten ihn zu finden.  Kein Namensschild ist unten an der Tür angebracht.  Nicht neben dem unbenutzbaren Eingang auf der ‚richtigen’ Seite der Gasse – und nicht am Eingang des gegenüberliegenden Hauses.  Bloß ein fast entfärbtes hölzernes Coletchen, das an einem knapp von der Mauer herausragenden verrosteten Haken befestigt ist, lässt vermuten, daß ein Coletichenbäcker in der Nähe sein Handwerk betreibt.

Der Coletichenbäcker hat drei Söhne.  Einer ist ihm ganz an die Astronomie verloren gegangen.  Er sieht nur noch seine geozentrischen Kreise - für ihn ist das Coletchen  nur noch ein solcher Kreis.  Alles was mit der Bäckerei, der Kundschaftsbedienung, des Sauberhaltens des großen Bottichs, wo der Coletschenteig gemischt wird, zu tun hatte – das alles haftete an ihm nur so weil es nicht so einfach von ihm abfiel.
 
Der zweite Sohn  liebte die Pflanzen.  Er ist zwar nicht ein Gärtner – dazu fehlte ihm die Erde.  Aber durch Verwehungen häuften sich kleine Erdhügel an den Fensterbänken und wegen der tropischen Hitze, die durch die großen Coletschenöfen Tag und Nacht erzeugt wurde, wuchsen dort manchmal ganz überraschende Gewächse.  Er hegte insbesondere seine prächtige Minzenkollektion, die auf einer Fensterbank Kolonien bildete.  Der Bäcker und seine Familie hatten immer frische Minze für ihren Tee.  Aus den Mauerritzen um den Fensterrahmen wuchsen auch allerlei Pflanzen wie Valerian, verschiedene Farne, auch rote Weinreben die nur in südlichen Ländern beheimatet sind.  In der Dachtraufe wucherte eine große Plantage von alchemilla mollis.  Der Sohn erreichte die Plantage hochkletternd auf einer Leiter, die von der Bäckerei bis zum Dachboden reichte.  Mit jener Pflanze versorgte er seine Mutter und Schwester mit allem was sie für ihre Frauenleiden benötigten.

Der Coletichenbäcker hieß Schlaf.  Sein astronomischer Sohn  hieß Ernst und der Pflanzenliebhabersohn hieß Paul.

Der dritte Sohn  Hans war der eigentliche Nachfolger des Handwerkbetriebs.  Er haßte alles, ausgenommen das pure Geschäftemachen.  Alle Menschen, vor allem die Kunden, meinten, daß Hans der Bestgelaunte von allen im Haushalt war.  Er pfiff immer irgendwelche Gassenhauer, knetete den Teig und formte die Coletschenräder mit großer Energie und Geschicklichkeit.  Er spornte alle anderen an.  Niemand hätte geahnt, daß er von üblen, mißmutigen, unzufriedenen Gedanken geplagt war.  Vor allem haßte er die Astronomie und die Botanik.  Wenn er einmal eine freie Minute hatte, las er in irgendwelchen staubigen Geschichtsbüchern, welche in den Wohnungen, von den verstorbenen erblosen Mietern des Hauses übrig geblieben waren.  Solche Bücher hatten meist eine patriotische Färbung, so stärkten sie in Hans seine naturgegebene Kampfeslust.



© Shannee Marks, September 2012






Samstag, 21. April 2012

Marquis de Sade - Der letzte Hexenmeister oder die Passion der Giftmischerin





Der dicke de Sade, in seiner einsamen Zelle, allein mit einer einzigen Vergnügung, dem Korb mit Leckereien, den seine eingeschüchterte wohlgeborene Frau ihm geschickt hatte, schrieb Papierriemen gegen die herrschende Moralität von Kirche und Staat. Allein, war seine Philosophie des Verbrechens deshalb revolutionär?
Waren seine Frauen Jägerinnen oder Beute, emanzipieren sie sich von den heuchlerischen Verbindungen der Familie, um ihre Sensualität zu entdecken?  Oder sind sie Objekte libertinärer anstelle - wie es die Anständigkeit erheischt - ehelicher Begierden?  Wenn man die Voraussetzung beibehält, daß die Familie der Kern der bürgerlichen Gesellschaft ist, strebt Sades scheinbare totale Diffamierung dieser Institution dann nicht über diese Ordnung hinaus, die sich gerade etabliert?
So jedenfalls lesen sich viele wohlwollende ,,linke‘‘ wie auch existenzialistische (Camus) Interpretationen.

Ich möchte dagegen stellen: de Sade geht über die Gegenwart hinaus —freilich rückwärts. Sade war ein ungleichzeitiger Zeitgenosse der Epoche, die er durchlebte - die Revolution und der gewaltige Bruch mit der feudalen Gesellschaft. Die gesellschaftliche Form, die de Sades Schriften wiedergeben, ist allerdings weder die Utopie des 18.Jahrhunderts, wie Roland Barthes ausführt, noch die Lebenswelt des bürgerlichen Salons wie Adorno und Horkheimer meinen; sondern es ist die Geheimgesellschaft der mittelalterlichen Ketzerei, insbesondere der Hexensabbat, dessen Nukleus die schwarze Messe zur Ehre des Prinzips des Bösen war - des Satans. Die von de Sade ausgewälzten Perversionen, die Grausamkeiten und Formen sensuellen Vergnügens, sind, wie er in ,,Gedanken zum Roman“ sagt, nicht von ihm ausgeklügelt: Die Prototypen der Sadeschen Orgien finden sich in den mittelalterlichen Quellen zu ketzerischen Riten.
Dennoch erlebt diese Art der Ketzerei eine merkwürdige Verkehrung. De Sade reflektiert die schwarze Messe in ihrer privatisierten aristokratischen Form. Der Sabbat, ursprünglich eine Protestform des niederen Volkes, hatte seinen Charakter von gemeinschaftlicher Sehnsucht nach der Erlösung/der Wiederaneignung des Körpers verloren. Insbesondere der weibliche Körper war durch die männliche Geistigkeit des Kultes Jesu Christi verdrängt. Der - ehemals ketzerische - Sabbat war durch den Prozeß der Säkularisierung und Formalisierung der Erotik als ein Phänomen der oberen Schichten assimiliert. Er ist nicht mehr das dunkle Gesicht des Katholizismus, dessen Verkehrung; vielmehr gehört er der Muße der Höflinge und Kurtisanen an. Der Sabbat wird ein Medium höfischer Intrigen im Kampf um erotisches und soziales Prestige, was sich wechselseitig bedingt. (Vgl. G.Zacharias, Satanskult und Schwarze Messe, Wiesbaden, 1964, s. 106 ff.)
Sade rekonstruiert seine Gesellschaft aristokratischer Satansanbeter - die ,,Gesellschaft der Freunde des Verbrechens‘‘ - zu einer Zeit, als die Existenzform der feudalen Hierarchie in ihren Todeszuckungen lag. Ähnlich wie ketzerische Sekten versucht hatten, ältere Formen der dionysischen vorchristlichen oder die wenig asketischen frühchristlichen Riten wiederzubeleben, so wollen Sades geheime aristokratische Sekten ältere Formen der Herrschaft auffrischen.
Sade revoltiert gegen die bürgerlichen Herrschaftsstrukturen im Namen feudaler Privilegien. Die Sadesche Sexualität von Herr und Knecht fungiert als Surrogat für die nicht mehr existierende totale Unterwerfung des Leibeigenen unter den Herren.

Bevor ich den Begriff der klandestinen Infrastruktur der Sadeschen Texte weiterentwickele, möchte ich nachweisen, daß jene Aspekte in der herkömmlichen Interpretation der Sadeschen Orgie als Diskurs bürgerlicher Vernunft ausgeklammert sind. Die exemplarischen Merkmale dieser hermeneutischen Vorgehensweise befinden sich in der Analyse von ,,Juliette“, wie sie Adornos und Horkheimers ,,Dialektik der Aufklärung“ präsentiert.

Eine befreite Natur kann, nach der Auffassung Adornos und Horkheimers, keine Gründe hervorbringen, die eine christliche Moral als vernünftig erscheinen ließe. Die Aufklärung selbst habe immer ihre ethischen Prinzipien außerhalb der Ratio entwerfen müssen. Die Wissenschaft alleine könne deshalb keine Argumente gegen das Verbrechen anführen. Sie kennt kein Verbrechen - dies sei die Weisheit Sades, und diese verschwiegene Wahrheit laut zu verkünden seine Integrität. In dieser Weise interpretieren sie die ,,Philosophie des Boudoirs‘‘, die an ein republikanisches Frankreich appelliert, ein Ende mit der Religion und der Sittlichkeit zu machen. Ein Republikaner darf sich nicht - so de Sade - an das obsolete Credo von Tyrannen und Despoten, namentlich der christlichen Religion, fesseln lassen. Als Teil des Programms, die ,,Zivilisation mit ihren eigenen Waffen zu zerschlagen‘‘, entzaubert nach Horkheimer und Adorno, ,,Sade (...) auch die Exogamie, die Grundlage der Zivilisation. Der Inzest hat nach ihm keine rationalen Gründe gegen sich, und das hygienische Argument, das dagegen stand, ist von der fortgeschrittenen Wissenschaft am Ende eingezogen worden.“  (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam, 1968, s.140)
Der in jedem klassischen Vernunft-Begriff enthaltene utopische Gedanke von gegenseitiger Achtung und Harmonie des transzendentalen und empirischen Ichs in der ,,wahren Allgemeinheit‘‘ ist danach bei Sade beseitigt. Die Vernunft ist davon entlastet und kann ebenso ein Bündnis mit der Unmoral wie mit der Moral eingehen.
Für Adorno und Horkheimer ist an de Sade so provokativ, daß er ,,die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen (...) in alle Welt geschrien‘‘ hat.  ( ibid. s.142)

 Aber indem er dies tut, habe de Sade - und dies ist der Grund, warum er in der ,,Dialektik der Aufklärung‘‘ so ausführlich behandelt wird — nur diese Doppelschlächtigkeit des Vernunftbegriffs an die düstere Oberfläche gerückt. Sie besteht darin, daß Vernunft die Utopie menschlicher Solidarität voraussetzt; ebenso aber ihre eigene Selbsterhaltung dadurch gewährleistet, daß sie alle Gegenstände im Hinblick auf die Unterwerfung begreift.

Diese dunkle Seite der Vernunft ist die Vernunft als Organ der Kalkulation, des strategischen Denkens: die instrumentelle Vernunft oder was daraus hervorgeht: Organ der Herrschaft. Die Sadesche Orgie ist, nach Adorno und Horkheimer, exemplarisch für die Einheit - wie sie im Kantschen System schon enthalten ist - von Erkenntnis und Plan. Wissenschaft im Sinne der instrumentellen Vernunft, ist die Unterordnung unter den Begriff, die Allgemeinheit, die Systematisierung, die Koordination von Einzelnem und Ganzem. Dies wiederum ist identisch mit Wahrheit. Man könne die Sadesche Orgie als Beispiel nehmen für das Funktionieren eines zweckneutralen selbsterhaltenden Systems bürgerlicher Vernunft. 
,,Was Kant transzendental begründet hat, die Affinität von Erkenntnis und Plan, die noch in den Atempausen durchrationalisierter bürgerlicher Existenz in allen Einzelheiten den Charakter unentrinnbarer Zweckmäßigkeit aufprägt, hat mehr als ein Jahrhundert vor dem Sport Sade schon empirisch ausgeführt. Die modernen Sportriegen, deren Zusammenspiel genau geregelt ist, so daß kein Mitglied über seine Rolle einen Zweifel hegt und für jeden ein Ersatzmann bereit steht, finden in den sexuellen Teams der Juliette, bei denen kein Augenblick ungenützt, keine Körperöffnung vernachlässigt, keine Funktion untätig bleibt, ihr genaues Modell. Im Sport wie in allen Zweigen der Massenkultur herrscht angespannte, zweckvolle Betriebsamkeit, ohne daß der nicht ganz eingeweihte Zuschauer den Unterschied der Kombinationen, den Sinn der Wechselfälle zu erraten vermochte, der sich an den willkürlich gesetzten Regeln mißt. Die eigene architektonische Struktur des kantischen Systems kündigt wie die Turnerpyramiden der Sadeschen Orgien und das Prinzipienwesen der frühen bürgerlichen Logen - ihr zynisches Spiegelbild ist das strenge Reglement der Libertinergesellschaft aus den 120 Journées - die vom inhaltlichen Ziel verlassene Organisation des gesamten Lebens an.“ (Adorno und Horkheimer, op.cit. s. 108)

Mit den Termini der Einweihung und des Sinns des Ablaufes interpretieren Adorno und Horkheimer die Orgie als Analogie zum Sportspiel des industriellen Zeitalters, das sich in mathematisch anmutenden Kombinationen aller an ihm beteiligten Elemente erschöpft: Hollywood-Sex ist Sport bei beliebiger Austauschbarkeit der Partner und Verkehrsformen. Diese Interpretation verschließt sich dem eigentlichen Wesen der Orgie als eines Rituals, dessen Sequenzen einer dem Verhältnis von geheimen Verboten und Geboten - nur dem Eingeweihten bekannt - entspringenden Gesetzlichkeit gehorchen. Adorno und Horkheimer sehen die Sadeschen Akteure, die Teilnehmer an dieser zwecklosen Zweckmäßigkeit, als anthropomorphe Hobbessche Atome, die kein anderes Ziel als die Bewegung selbst haben und zwischen den Polen von sinnlichem Schmerz und Genuß ihre sinnlosen Kreisbahnen ziehen. Sexualität ist nur stellvertretend: sie illustriert einen philosophischen Habitus, ein organisierendes Prinzip. In einem ganz ähnlichen Sinn beschreibt Pierre Klossowski die Bedeutung der Apathie für die ,Freunde des Verbrechens‘. (Pierre Klossowski, ,,Der ruchlose Philosoph‘‘ in: Das Denken von Sade, Hrsg. ,,Tel Quel‘‘, München, 1969)

Apathie sei die Emotion als totale Abwesenheit der Emotion, die gerade das Amoralische an dem Begriff der bürgerlichen Vernunft kennzeichne. Anders als die Indifferenz sei sie die bewußte Auslöschung von Mitleid und zugleich die höchste und strengste Disziplin, der sich die Sadeschen Protagonisten zu unterwerfen haben. Stoizismus, der diese Apathie zum Gesetz menschlichen Handelns überhaupt erhebt, sei die bürgerliche Ideologie par excellence. Die Frau, so interpretiert Klossowski, d.h. die denaturierte Frau, eigne sich besonders dazu, Sprecherin der Mitleidlosigkeit zu sein.
Frauen, mit ihrer besonderen Funktion als kindergebärende, stellen den reinsten Begriff bürgerlicher Sittlichkeit dar, welcher als Zentrum die Familie hat. Aus diesem Grund bricht das gesamte darauf beruhende Wertsystem zusammen, wenn sie die Norm der Fortpflanzung verweigern: ,,Umwertung aller Werte‘‘. Weg mit der Elternliebe, der mütterlichen Fruchtbarkeit schlechthin; an ihre Stelle trete der sodomierende Sadesche Androgyn, der Weibmann.  [L.Irigiray weist die Sadesche ,Samenentladenen‘ ,entleerenden‘ Frauen als phallokratisch zurück; vgl. ,,Waren, Körper, Sprache‘‘.]

,,In Umkehrung zum Mann,(...)spricht aus der Sadeschen Heldin die Vernunft. (...) Die Abschaffung der Normen, die dieses Denken einschließt, ist ihr wichtiger als dem Perversen, für den die Normen nur noch als Ruinen fortbestehen; denn als Frau bleibt sie ihnen doch zumindest organisch unterworfen, vor allem durch ihre Befruchtbarkeit. Umso mehr sucht sie in der Apathie die Richtlinie ihres Verhaltens, deren erste Folge die Ausrottung jeden mütterlichen Instinktes ist  (...)“.
(Klossowski, op. cit., s.33)

Die Sade-Interpreten stimmen darin überein, daß die aktiven Sade-Figuren einem kaltblütigen Atheismus dienen, der von aller christlichen Moral entleert ist, um das Universum mit ihren Verbrechen füllen zu können. Aber es gibt in dem Sadeschen Werk - wie ich nachweisen will - eine andere Gesetzlichkeit, welche das Verbrechen vorschreibt, welche Gotteslästerung zum höchsten Gebot, die Familie zum Gegenstand der Verachtung und welche die Kinder zu Opfern macht. Die willkürlichen, nach Adorno und Horkheimer nur Eingeweihten durchsichtigen Gesetze sind nicht nur Resultate der entmythologisierenden Kraft der Aufklärung, als deren Folge die Natur ihrer Seele beraubt wird. Vielmehr sind sie die Vorschriften archaischer aber nicht vergessener Rituale: Rituale, die vielleicht zur Urgeschichte des aufklärenden Atheismus gehören (dies ist Michelets These), gleichwohl ganz anderer Herkunft sind. Die Sadesche Blasphemie, das Sakrileg und die Verkehrung von christlicher Moral gehören zur Tradition der Ketzerei, insbesondere  des Hexensabbats, der einer der Hauptbestandteile der schwarzen Messe war.

Obgleich de Sade häufig einem metaphysischen Materialismus Lippenbekenntnisse liefert, demzufolge nichts entsteht und nichts vergeht, sondern nur Transformationen in der Materie stattfinden, folglich auch Verbrechen oder Sünde sinnlose Begriffe sind, bleibt die tiefste Motivation seiner Libertiner, all die Ungeheuerlichkeiten, die der christlichen Moral ,,als scheußlich galten“ (Adorno und Horkheimer), zu begehen.

Über Juliette, vielleicht neben der ,,schönen Erzählerin‘‘ der ,,120 Tage“, der Hure und Kupplerin Duclos, die vollkommenste Sadesche Heldin, sagen Adorno und Horkheimer, daß sie ,,bei aller rationalen Überlegenheit (...) noch einen Aberglauben fest(hält). Sie erkennt die Naivität des Sakrilegs, zieht aber schließlich doch den Genuß aus ihm (...). Man gibt sich den verklärten Mächten des Ursprungs hin; vom suspendierten Verbot her aber hat dieses Tun den Charakter der Ausschweifung und des Wahnsinns (...). Juliette hält es mit dem Ancien Régime. Sie vergottet die Sünde. Ihre Libertinage steht unter dem Bann des Katholizismus wie die Ekstase der Nonne unter dem des Heidentums.“ (Adorno und Horkheimer, op. cit., s. 126 -128)

Wenn wir diese Beobachtungen der ,,Dialektik der Aufklärung“ teilen, wo ist hier die apathische Heldin der Vernunft zu erkennen? Die Klöster sind im Ancien Régime der Ort (die Institutionen), an dem die Zwiespältigkeit des Katholizismus in Form sexueller Perversionen zum Tragen kommt: zu einer Zeit als die Einheit von Wahnsinn und Ketzerei Krankheit und Sakrileg immer noch geherrscht hat. Priester, die alte ketzerische gnostische Prinzipien der Austreibung der Sünde durch die Sünde, wiederbeleben wollten und deshalb die Nonnen unter ihrer Aufsicht zu lesbischen und anderweitigen sexuellen Praktiken verlockt haben, wurden in Frankreich während der Klosterskandale im 17.Jahrhundert auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Sie mißbrauchten die Intimität der Beichte, um ihre Nonnen zu einer sinnlichen Agape anstelle der christlichen abstrakten geistigen Liebe zu Christus zu erregen. Diese irdische Agape, die wörtliche Interpretation oder Desublimierung der christlichen Vorschriften und Riten, ist eine wesentliche Komponente der ketzerischen Sekten bis zum heutigen Tage.

Der Dualismus von sinnlicher und geistiger Liebe entspricht in gewissem Maße jenen weiblichen vorchristlichen Muttergöttin-Religionen einerseits, und dem väterlichen Triumvirat des Christentums andrerseits. Das andere bedeutende dualistische Moment ist dasjenige des Guten und Bösen: des guten Gottes Jehovah und seines Sohnes vs. des bösen abgestürzten Engels, Lucifer. Der Teufel, nach christlicher Theologie, war eine Bestätigung der Vollkommenheit der Schöpfung. In Gottes Universum muß auch ein Platz für das Böse sein, um das Gute zu unterstreichen und zu komplementieren. Dem Teufel sind Teile des Universums und des Körpers (Makrokosmos und Mikrokosmos) zugeteilt - die Restbestände des Göttlichen: Er herrscht über die niederen Regionen. Deshalb auch über die weiblichen in ihrer Hexenform, die wegen ihrer unersättlichen Wollust besonders für diabolische Versuchungen anfällig waren. Die manichäistische Welt der Ketzerei war nur eine Widerspiegelung des Dualismus, das die mittelalterliche Welt des Christentums durchkreuzte.

Innerhalb dieses Kontexts wird der Dualismus des Sadeschen Textes verständlich: Die Teilung in Inquisitor und Ketzer, Henker und Opfer. Sein Kult des Verbrechens stellt keine Travestie der bürgerlichen Doppel-Moralität dar. Vielmehr ist sein Bezugspunkt eine Welt, an die noch nichts von der bürgerlichen Moral gedrungen ist. Sades Figuren spielen die alte kosmologische Passion des Katholizismus aus: den Krieg zwischen dem Prinzip des Guten und Bösen, Geist und Fleisch.

Auch die Biographie von Juliette belegt diese Interpretationen. Juliette wird in einem dieser obengenannten Klöster während der Langeweile einer erzwungenen Zölibatexistenz von Madame Delbene, der Äbtissin, in den süßesten Ausschweifungen unterrichtet. Später zelebriert sie eine schwarze Messe mit dem Papst. Kurz vorher aber erfüllt er ihren Wunsch, er möge eine Rede zur Verteidigung des Mordes halten. Dies tut er, indem er - Montesquieu zitierend - behauptet, daß ,,Nichts (...) geboren (wird) und nichts vergeht seinem Wesen nach, alles (...) nur Aktion und Reaktion der Materie ist.‘‘ (Donatien Alphonse Francois Marquis de Sade,  Ausgewählte Werke Bd. 5, Die Geschichte der Juliette oder Das Gedeihen des Lasters, Hamburg, 1962, s. 188)
Der Widerspruch dieser bei Sade kaum vermittelten nebeneinanderstehenden Strukturen von atheistischem Materialismus und ketzerischem Hexensabbat wird an dieser Stelle sehr deutlich. Der päpstliche philosophische Exkurs ist eine Vorrede zur schwarzen Messe geworden. Direkt nach dieser Rede ziehen sie sich in eine Kapelle zurück, in der Priester eine Messe lesen, während die Jungfrauen und ,,Jungmänner‘‘ zum ersten Mal entjungfert und ,,bemannt“, dann als körperliche Hostien geopfert werden: Der aufklärerische Inhalt ist der Form der ketzerischen Gotteslästerung subsumiert.

Die Schwarze Messe oder der Hexensabbat stellt den Rahmen dar für die Ausschweifungen und die Anbetung der ,,unnatürlichen‘‘ grausamen Sexualität. Der Sabbat ist ein verkehrtes Universum: alles, was im Christentum Verbot ist (als scheußlich galt), wird zum Gebot. Der schwarze Gottesdienst setzt anstelle von Gott Teufel, anstelle von Gut Böse. Tags wird die Jungfrau, nachts die Teufelsbraut als die zentrale Figur des Unfruchtbarkeitskultes verehrt. Besteht die Unfruchtbarkeit der ersteren in ihrer Enthaltsamkeit, so die der Teufelsbraut in der Kunst der Abtreibung, die sie die Hexe gelehrt hat. Niemand kommt schwanger von einem Sabbat zurück, sagt der Volksmund.

Als - sozialökonomische - Auflehnung gegen die christliche Moral und die feudale Hierarchie, welche Fruchtbarkeit propagieren, um den Lehnsbesitz zu vermehren, haben die Leibeigenen Abtreibung und Kindermord betrieben. Der Verbannung der Sexualität als Erotik aus dem Christentum wird mit dem osculum infame, dem Schandkuß begegnet: Zu Beginn des Sabbats wird der Hintern des Teufels geküßt, eine symbolische Sodomie.
In diesem Zusammenhang nimmt die Frau eine außerordentliche Rolle ein. Die Frau, die im christlichen Europa trotz Jungfrauenkult doppelte Leibeigene war - leibeigene und dem Manne eigene - ist im Sabbat alles. ,,Die Schwarze Messe“, so Michelet, ,,könnte bei ihrem ersten Anblick als die Erlösung der von dem Christentum verdammten Eva erscheinen; die Frau erfüllt am Sabbat jede Pflicht, sie ist Priester, Altar, Hostie, die das ganze Volk bei der Kommunion genießt. Ist sie im Grunde nicht Gott selbst?‘‘ (Jules Michelet, Die Hexe, München, 1974, s.101)




Indem die Orgie die Form eines Gottesdienstes zur Verehrung des Teufels annimmt, entsteht ihre Ordnung. Sowohl für die Gesellschaft der Freunde des Verbrechens wie für die Sodomgemeinschaft im Schloß Silling ist die Gotteslästerung höchstes und edelstes Gebot, die Frömmigkeit hingegen das größte Verbrechen.
Als Adelaide in den ,,120 Tage“ religiöse Neigungen zu zeigen beginnt, wird sie strengstens von einem der vier Schloßherren verwarnt: ,,Sie solle keine andern Herren und keine andern Götter haben als seine drei Freunde und ihn, und keine andere Religion als die, ihnen zu dienen und in allem blindlings zu gehorchen.“ (Marquis de Sade, Die 120 Tage von Sodom, München, 1978, s.172) 
Bei de Sade hat mithin die Schwarze Messe den Charakter der ,,Gemeinschaft der Revolte“ (Michelet) völlig eingebüßt. Ebensowenig drücken die an den Messen teilnehmenden Frauen einen Protest gegen die herkömmliche Sexual/Sozialordnung aus. Ihre sexuellen Ausschweifungen sind nicht Zwecke einer Befreiung, sondern Mittel, um Prestige zu erwerben und Eintritt in die aristokratische Gesellschaft zu finden. Diese Gesellschaftsform ist wiederum realiter durch das revolutionäre Frankreich bedroht, aber idealiter in de Sades Schriften künstlich hergestellt. Die Freiheit von de Sades Libertiner ist definiert durch totale sexuelle und soziale Herrschaft über Untergeordnete in isolierten abgeschlossenen Räumen; die Struktur der ketzerischen Geheimgesellschaft ermöglicht diese Freiheit.   
Die Mitglieder der Gesellschaft des Verbrechens sind Privilegierte: Wie auch für Gilles de Rais - den mittelalterlichen aristokratischen als Ketzer verbrannten Verbrecher gegen die Kirche - die kleinen Jungen, die von den Eltern um zu betteln in die Welt geschickt, sich unglücklicherweise an seine Tür verirren, nichts anderes als der ,,Rohstoff chaotischer Wollust“ (Bataille) waren, so erregen sich de Sades Juliette und Clairwill am meisten bei den Morden an unwissenden unschuldigen Angehörigen niederer Stände.

[Gilles de Rais, von sehr hoher Geburt, ist bereits als junger Mann ein Held Frankreichs: Als Marschall de France ist er Jean d‘Arcs rechte Hand. Später, während der Friedenszeit, wird er immer misanthropischer und zugleich verschwenderischer; er verschleudert seinen Familienreichtum für Alchimie und Orgien, wobei kleine Kinder vergewaltigt und zerstückelt werden. Er wird schließlich von einem kirchlichen und weltlichen Gericht zur Hinrichtung verurteilt. An der Urteilsverkündung im Prozeß gegen Gilles de Rais läßt sich die Bestimmung von Verbrechen bei Sade ablesen, nämlich Verstoß gegen die Kirche. Gilles de Rais wird nicht so sehr der Kindermord als vielmehr Ketzerei und Teufelsanbeterei zur Last gelegt.]

Die Sozialordnung des Mittelalters drückt sich hier emphatisch aus; wie Bataille für die Zeit Gilles bemerkt: ,,Wir könnten heute kaum ermessen, wie gewaltig damals der Unterschied zwischen einfachen und durch Geburt und Vermögen mächtigen Menschen war: Die Armen wurden erdrückt wie ein Insekt zwischen zwei Steinen.“ (Georges Bataille, Gilles de Rais, Leben und Prozeß eines Kindermörders, Frankfurt, 1975, s.43)

Eine wichtige Regel der ,,Gesellschaft des Verbrechens‘‘ beinhaltet die Loyalität ihrer Mitglieder untereinander: Zwischen den Mitgliedern gibt es weder Mord, Diebstahl, noch Duelle. Mord darf zum Beispiel nur an den, in dem der Gesellschaft angehörigen Harem befindlichen Mädchen und Jungen verübt werden, die sich dort für Serails zur Verfügung halten müssen.  

Hier zeigt sich ein Widerspruch de Sades: Er legt in seine ,,Gesellschaft des Verbrechens‘‘ eine höfische Erhabenheit hinein. Da ihm jedoch als Muster der Hof dient, den er in seiner Jugend kennenlernte, der also den verfallenden Feudalismus wiedergibt, präsentiert er Verfallsformen: Die Veräußerbarkeit höfischer Privilegien.
[Sades Libertiner sind meistens betitelt, auch Juliette, die nur als arme Waise angefangen hat, wird zur Gräfin.]
Von der Erhabenheit bleibt nur die adlige Verachtung der Arbeit und der kommerziellen Klasse. Die Freunde des Verbrechens genießen die Privilegien von Rentiers, sie können sich allenfalls durch Erpressung, Straßenraub und Mord bereichern. Die Erosion höfischer Privilegien, als deren notwendige Folge diese Handlungen zu begreifen sind, sucht de Sade aufzuheben, indem er letztere mit ersterem in eins setzt - der Gedanke der Erhabenheit wird künstlich am Leben erhalten. Der Schein ehemals freier Verfügung über Leben und Besitz wird in die Verfallsform hinübergerettet, in die Lust an Folter, Mord und Raub. Die Entbehrlichkeit des Adels und seines Hauptgeschäftes, des Kriegführens als Spiel, ist in private sexuelle Grausamkeit transformiert.

In der Einleitung zu ,,120 Tage von Sodom“ läßt de Sade keinen Zweifel daran bestehen, daß seine Libertiner einer ganz bestimmten Klasse angehören: Die Freiheit der Wollust, die sie vertreten, ist das Ergebnis der Gewohnheit der Macht einer parasitären Kriegerkaste, deren ungeheurer Reichtum lediglich der Berauschung ihrer Sinne dient. ,,Die ungeheueren Kriege, die Ludwig XIV. im Verlauf seiner Regierung zu führen hatte und welche die Gelder des Staates und die Hilfsmittel des Volkes erschöpften, boten dennoch einer enormen Anzahl von Blutsaugern die Gelegenheit, sich zu bereichern. Diese Blutegel waren immer in der Nähe des Unglücks, das sie noch vermehrten, anstatt es zu verringern, und zogen daraus den größtmöglichen Nutzen für sich selbst. Das Ende dieser im übrigen so glorreichen Regierung ist vielleicht eine jener Epochen des französischen Reiches, in der die meisten jener gewissen geheimen Reichtümer gewonnen wurden, jener Reichtümer, die eine Schwelgerei und Ausschweifung gebaren, so geheim und verschwiegen wie sie selbst. Es war am Ende dieser Regierung, einige Zeit ehe der Regent durch das berühmte Tribunal die Männer des Gerichthofes wie tolle Hunde losgelassen hatte, um jener Bande von Verrätern die Gurgel abzudrehen - als vier von ihnen die seltsame Unternehmung der Wollust erdachten, die jemals bekannt geworden ist. Man täte unrecht, zu meinen, daß nur Diebe sich mit Gelderpressungen abgaben, dieses Gewerbe hatte an seiner Spitze sehr vornehme Herren. Der Herzog von Blangis und sein Bruder, der Bischof von ..., die sich beide auf diese Weise unermeßliche Vermögen erworben haben, sind unantastbare Beweise dafür, daß der Adel ebensowenig wie die anderen die Mittel verschmähten, um sich auf solche Art zu bereichern.‘‘  (Marquis de Sade, 120 Tage, s.7)

Der Trieb zur Ausschweifung hatte Gilles de Rais blind gemacht und brachte ihn dazu, mit Alchimisten zu verkehren, um aus Blei Gold er- zeugen zu wollen. Die gelungene Alchimie ist für Blangis die Erpressung - die Möglichkeit, sich des Zwanges zur Arbeit zu entheben. Nur so kann ein Adliger, dessen Zeit vorbei ist, seinen Status aufrechterhalten. Der Herzog von Blangis, von ,,der Statur eines Herkules‘‘, begnadet mit den ,,schönsten Beinen von der Welt‘‘,  hatte ein Glied „das einem Esel Ehre gemacht hätte“.   Es ermöglichte ihm sein Sperma so oft am Tag zu verlieren wie er wollte.  Zwischen seinen Schenkeln gelang es ihm ein Pferd zu erwürgen, jedoch erschrickt jener Koloß vor einem entschlossenen Kind.  Er, der ,,nach der herrschenden Sitte, einen oder zwei Feldzüge mitgemacht,“ sich aber dabei so gründlich entehrt hatte, den Dienst sogleich quittieren mußte, bedient sich der Doktrin eines aufgeklärten Egoismus, um seinen Mangel an kriegerischem Talent zu verdecken: ,,...er behauptet laut, daß die Feigheit nur der Ausfluß seines Selbsterhaltungstriebes sei, daß es daher vernünftigen Leuten ganz unmöglich sein sollte, sie ihm als einen Fehler vorzuwerfen.‘‘  (ibid. s. 17-19)

Hinter de Sades Porträt steht die Anklage, daß eine ,im übrigen so glorreiche Regierung‘ verkommen ist:    Ihre vornehmen Herren widmen sich nicht mehr dem Kriegsdienst, durch den sich ihre Vorfahren einst bereichert haben, sondern sie scheuen wie ,,Blutegel“ nicht die schmachvollsten Mittel um Reichtümer anzuhäufen, die sie brauchen, um anstelle des Kriegsdienstes den Kult ihrer Ausschweifungen zelebrieren zu können.
Wie Bataille über Gilles de Rais ausführt, so ziehen auch Sades adlige Erpresser sich auf ihre Schlösser zurück: Es ist der letzte Ort, wo sie noch Götter sind, denen man ,,blindlings zu gehorchen“ hat. Die Abgetrenntheit von der restlichen Welt, auf der sie überholt sind, könnte nicht vollendeter sein. Die vier Herren haben in exterritorialer Zurückgezogenheit den Ort einer vergangenen Lebensform, den Hof ihrer Ausschweifung hergerichtet. Sade gibt die Züge dieser Lokalitäten, wo ,,die selbstherrlichen Gesetze ihrer perfiden Lüste“ allein gelten, sorgfältig wieder: ,,Doch ist es Zeit, dem Leser hier eine Beschreibung des berühmten Tempels zu geben, der für soviel wollüstige Opfer vier Monate hindurch bestimmt war. Er wird daraus ersehen, mit welcher Sorgfalt man einen Zufluchtsort gewählt hatte, unauffindbar und einsam wie das Schweigen. Entfernung und Ruhe sind das mächtige Vehikel der Leidenschaft, und da diese Eigenschaften den Sinnen überall eine religiöse Scheu einflößen, müssen sie wohl auch der Schwelgerei einen besonderen Reiz verleihen. Wir werden diesen Zufluchtsort nicht so schildern wie er ehemals war, sondern in dem Zustand der Verschöntheit und vervollkommensten Einsamkeit, in den ihn unsere vier Freunde versetzten.“ (ibid., s. 51)

Nicht wie er ehemals war, zur Zeit, als solche Herren die Ausübung ihrer Macht nicht verheimlichen mußten, ihre Existenz noch eine materielle Grundlage besaß, so erstreckt sich nun ihre Despotie auf das Private, Ehefrauen und die entführten Töchter und Söhne ihres Standes.

Das Schloß, das hoch in den Bergen liegt, gehört zum Grundbesitz Durcets. Nachdem die ganze Gesellschaft eine kleine zierliche Brücke, die zwischen zwei spitzen von einander sehr entfernten Gipfeln lag, überquert hatte, wurde die Brücke abgeschlagen und stürzte in die Tiefe. Der Weg war endgültig verschlossen. Man sieht die Raubvögel in dem dunklen Sadeschen Himmel schweben. ,,Und ist die kleine Brücke einmal zerstört, gibt es keinen Bewohner der Erde, er sei wer immer, der die kleine Ebene erreichen könnte. Und in der Mitte dieser kleinen, so gut umwallten, so trefflich verteidigten Ebene befindet sich das Schloß Durcets (...).“ (ibid., s. 52)

Es folgt eine Beschreibung der inneren Räumlichkeiten des Hofes, der zentrale Ort ist ein Salon, ,,bestimmt für die Darstellungen der Erzählerinnen, das war sozusagen das Schlachtfeld der projektierten Kämpfe (. . . )“. (ibid., s. 53)  Das Schlachtfeld dieser Herren von Rang befindet sich somit nicht mehr außerhalb der Schloßmauern im geschichtlichen Raum, sondern in diesem Niemandsland der Wollust. Die Erzählerinnen, denen ein Thron von vier Fuß Höhe errichtet worden ist, nehmen die Rolle höfischer Damen an, und bilden den Mittelpunkt des Salons. Die vier Erzählerinnen sind alle in fortgeschrittenem Alter und wissen viel über ihr verbrecherisches Leben zu erzählen. Sie sind deshalb den Männern fast gleichberechtigt und nehmen die Rolle der Priesterinnen dieses Tempels an. Im Unterschied zu den sechs jungfräulichen Mädchen, die bei diesem viermonatigen Hexensabbat zu Opfern bestimmt sind, sind die ,,Alten‘‘, die Königinnen des Sabbats.  Die Alte sitzt auf einem Thron, der zwischen zwei Säulen plaziert ist, an denen alle Instrumente und Werkzeuge für eine willkürlich bösartige Bestrafung aufgehängt sind, deren Anblick der Herstellung von der so notwendigen ,,Subordination‘‘ der „Objekte“ dienen soll, aus welcher fast aller Zauber der Wollust in der Seele des Peinigers entspringt. (ibid., s. 54)

Sade beschließt seinen siebenseitigen Bericht über die Einrichtungen im Schloß Silling mit einer Beschreibung jener ,,unbetretbaren Winkel‘‘, die so tief wie Grüfte liegen. Dreihundert Stufen unter der Erde liegt ein Kerker, der für die ,,raffinierteste Barbarei‘‘ bestimmt ist, tief im Eingeweide der Erde. Um dieses Exil des Schreckens noch vervollkommnen zu können, hat sich der Herzog von Blangis alle Fenster und Türen zumauern lassen.

Der Charakter des lebendig Beerdigtseins als physischer Ort der Sodomschen Orgie bezeichnet die Refunktionalisierung der ursprünglich ketzerischen Bedeutung. Diese ketzerische und satanische Feier war vom negativen weiblichen Prinzip - ,,des verschlingend Weiblichen“ (Zacharias) - geprägt. Es erscheint in der ketzerischen Tradition als Moment des Opfers: die Muttergöttin ruft ihre Kinder zurück in den Leib. Für den satanischen Kult nimmt dies - unter anderem - die Form der ,,Todeshochzeit‘‘ an; die Rückkehr der Hexe zu ihrem Meister auf dem Scheiterhaufen. De Lancre, baskischer Dämonolog und Inquisitor, nannte dies deshalb ein ,,falsches Martyrium‘‘, da es schließlich kein Versprechen auf das Jenseits gab. Der Sinn des Satanskults war ein Abstieg ins tierische Diesseits. Transzendenz bleibt verweigert. De Sades Text reinterpretiert diesen ketzerischen Rückgang in die Höhle, die Tiefe, als einen Tod dieser feudalen aristokratischen Lebensform. Durcets Schloß ist der Stein, der dieses Grab ziert. Es ist die einzige ,,Wiederauferstehung‘‘, die in der satanischen Religion möglich ist: In die Erde zurückzukriechen.

Der Mangel eines transzendendierenden Moments im satanischen Kult, wird von Zacharias als Erklärung für die alleinige Destruktivität und Sterilität seiner Riten gesehen. Trotz ihrer Ähnlichkeit mit den vorchristlichen Muttergöttin-Religionen - wegen der Abwesenheit einer Wiedergeburtsmythologie im Satanskult - sind sie zur Unfruchtbarkeit verdammt. So behauptet De Lancre, daß der Ort, auf dem die Hexen tanzen, einen solchen Fluch empfinge, daß auf ihm nichts mehr wüchse. (G. Zacharias, op. cit., s. 88)

Die Hexe ist vom Anfang bis zu ihrem Ende und trotz ihrer Formwandlungen ein ,,Verbrechen der Kirche‘‘ (Michelet). So auch für de Sade; Verbrechen ist stets gegen die Kirche gerichtet. Es ist die Hexe als Alte, die bei de Sade noch lebendig ist.





Die Herren von Sodom haben die Insassen ihrer Tempel mit der Hilfe einer Brigade von zwielichtigen Kupplerinnen zusammengetrieben. Dieser Beruf, in dem oft die Künste der Giftmischerei und die Herstellung von Liebesgetränken beherrscht wurden, ist eine spätere Verfallsform der ,,Alten“ oder der Hexe. So Michelet: ,,Als Kind beschmutzte sie alles; ein wenig größer, ist sie zwar hübsch, aber man wundert sich über ihre Unsauberkeit. Ihretwegen wird das Hexenwesen eine gewisse Küche einer gewissen Chemie sein. Zu früher Stunde betreibt sie schon widerwärtige Dinge, heute beschäftigt sie sich mit Drogen und morgen mit Intrigen; Liebschaften und Krankheiten sind ihre Elemente, sie wird sich als feine, geschickte, kühne und erfahrene Kupplerin zeigen. Man wird ihr den Krieg wegen angeblicher Morde, wegen angewendeter Gifte machen; sie ist gefährlich in doppelter Beziehung: sie verkauft Unfruchtbarkeitsrezepte, vielleicht sogar Rezepte zum Abortieren (...)“. (Michelet, op. cit., s.131)

Noch schlimmer, sie wird - nach Michelet - verkäuflich und gewerbetreibend, kein Wutgeschrei ertönt mehr beim nächtlichen Aufstand in der abgelegenen Heide oder im dunklen Wald; sie ist nur listige, hinterhältige Komplizin der großen Damen, der Kurtisanen. Sie ist jetzt deren Vertraute und Werkzeug geworden. Die Hexe findet ihren Platz im Prozeß der Säkularisierung der Liebe, die vor allem das höfische Leben prägt. (Diese Zeit wird bei den Unterschichten mit noch strengeren kirchlichen Verboten gegen Sexualität gekennzeichnet.)
[Vgl. zur Interpretation des Hexenwesens und des Sabbats als soziale Bewegung: Helmut Reinicke ,,Hexen, Plebejer, Gauner“ in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie]
Zum Hofbild gehört geradezu konstitutiv die ,,Dame von Distinktion‘‘, die emanzipierte höfische Frau, die mit ihrer Schönheit, Klugheit und Skrupellosigkeit den Hof wie die Epoche regiert. ,,Mme de Pompadour ist die Vertreterin der gesamten Kultur des Ancien Régime.“ (Werner Sombart, Liebe, Luxus und Kapitalismus, München, 1967, s. 103)

Die Alte fühlt sich heimisch, weil die Messe oder der Sabbat in die alltäglichen Sitten eingedrungen ist. Dadurch aber büßt sie ihren subversiven Charakter ein; sie riecht nach Aristokratie. Die schwarze Messe wird zur privaten höfischen Angelegenheit. Man bezahlt eine Teufelsmesse, um einen Liebhaber zu behalten oder ein Unglück zu verursachen, genauso wie man von der Kirche Ablässe und nicht verkehrte Gottesdienste kauft.

Der Theoretiker der Liebe als Perversität und Ausschweifung, welche die Endpunkte dieser Entwicklung darstellen, ist Marquis de Sade. (Vgl. auch W. Sombart, op. cit.)

Die Hexe präsentiert sich bei der unnatürlichen Emanzipation des Fleisches bei Sade im doppelten Sinne: Sinn des Sabbats wird es, eine sterile unfruchtbare Liebe zu betreiben, die den familiären Zusammenhang verhöhnt und verschmutzt. Die Hexe verkauft ihre Künste an die Aristokratie als Gift- und Trankmischerin, Abtreiberin, Händlerin von Menschenfleisch - als Kupplerin. Das Tribunal von dem in der Einleitung zu ,,120 Tage von Sodom‘‘ die Rede ist, könnte sehr wohl diejenige Sonderkommission sein - Commission de l‘Arsenal - deren Resultat unter anderem die Verbrennung der Pariser Wahrsagerin La Voisin war. Diese Kommission wurde einberufen, weil bekannt geworden war, daß sehr viele Mitglieder des Hofes Ludwig des XIV. Kunden von Giftlieferanten waren.  La Voisin war eine von ihnen. Ihre besonderen Verbrechen betrafen Giftmischerei und das Vermitteln von abtrünnigen Priestern und Kindern für mehrere schwarze Messen. Eine ihrer höfischen Kundinnen war Madame de Montespan, Hofdame und später langjährige Mätresse des Königs.

Im Jahre 1672 kommt Madame de Montespan in Kalamitäten; sie wird vom Hof verbannt und ihre Nebenbuhlerin droht ihren Platz endgültig einzunehmen. Sie wendet sich wie oft vorher an La Voisin; diesmal bekommt sie Hilfe von Abbé Guiborg, angeblich der illegitime Sohn eines Adligen, von häßlich schielenden Zügen, der ihr eine besonders grausige Version der schwarzen Messe zugedacht hat. In einer privaten Wohnung zwischen Paris und Orleans, nicht in entlegener Natur, wird für Madame de Montespan der Teufel beschworen. Sie legt sich in einer kleinen privaten Kapelle nackt auf einen Altar, das Kruzifix und der Kelch, der die Hostie enthält, ruhen auf ihrem Bauch. Die Messe wird zelebriert, in der die Kehle eines kleinen Kindes aufgeschlitzt und das Blut, das in den Kelch einfließt, getrunken wird. Danach sprechen Abbé Guiborg und seine Klientin folgende Zauberformel im Chor: ,,Astaroth, Asmodeus, Fürstin der Zuneigung, ich beschwöre euch, das Opfer dieses Kindes, das ich euch darbiete, wider die Dinge, die ich euch erbitte, anzunehmen, welche sind, daß die Zuneigung des Königs zu mir fortbestehen möge; und daß, geehrt von den Fürsten und Fürstinnen des Hofes, mir nichts abgeschlagen werden möge, was ich vom König erbitte.‘‘ (zit. in Jeremy Kingston, Hexenzauber Hexenwerk, Frankfurt, 1978 s. 120)






Dieses menschenfresserische Liebesritual wird mehrmals wiederholt, wobei das Blut des Kindes seinen Weg ins Essen des Königs findet. Die Messen bleiben erfolglos; mit der Entlarvung der höfischen Giftskandale sind La Voisins Karriere und Leben beendet.

Aus den Wünschen, die Montespan in dieser magischen Formel während der Messe ausdrückt, wird deutlich, daß die Natur der Messe transformiert ist. Der Aberglaube oder der Glaube an bestimmte übersinnliche Kräfte sind geblieben; aber sie werden wegen säkularer Zwecke angesprochen:  Zur Erreichung von Status am Hofe.
Die Sinnlichkeit des frühen mittelalterlichen Sabbats fehlt. Der Erotizismus der Messe ist sekundär geworden. Die Messe ist nicht mehr profan, sondern säkular, - weltlich aber nicht irdisch - damit auch nicht mehr Ausdruck weiblicher, von der Kirche verdrängter Sexualität. Die Hexe ist nicht mehr das Zentrum der Messe, sie ist eine Vermittlerin und Kupplerin geworden: Agentin aristokratischer Intrige. Die klandestine Form hat sich auf höfische Hintertreppen reduziert. Die alten Riten sind von ihrem ketzerischen Inhalt entleert.

La Voisin, die vielen Höflingen Ludwigs XIV. als Giftmischerin gedient hat, ist vielleicht Vorbild für de Sades Giftmischerin La Durand. Der Besuch der zwei Tribadinnen, Juliette und Clairwil , bei La Durand ist wie eine schwarze Messe strukturiert und ihr Zweck sowohl der Erwerb von Liebesgetränken und Giften als auch die Voraussage der Zukunft. Wie de Montespan so suchen diese beiden aristokratischen Frauen die diskreten Dienste der kommerziellen Hexe La Durand, um die notwendigen Gegenstände für ihre erotische und gesellschaftliche Karriere zu erlangen. ,, ,,Hör zu‘‘, sagt Clairwil eines Tages zu mir, ich besitze die Adresse einer sehr außergewöhnlichen Frau. Wir müssen einmal gemeinsam hingehen. Sie stellt Gifte aller Art zusammen und verkauft sie, und außerdem sagt sie die Zukunft voraus, und dabei verfehlt sie selten die Wahrheit.‘‘ ,,Und gibt sie das Rezept für Gifte, die sie verkauft, preis?‘‘ ,,Für fünfzig Louis.‘‘ ,,Ausprobiert?‘‘ ,,Vor den eigenen Augen, wenn man will!“  (Marquis de Sade, Juliette, op. cit., s. 106)
Beim Eintritt in das Haus ,,der Zauberin‘‘ erbittet Clairwil die Erzählung ihrer Zukunft und gibt der Giftmischerin/Wahrsagerin gleich fünfundzwanzig Louis dafür. Jeder Akt wird vom Nennen des Preises und der Bezahlung begleitet. Trotzdem ist La Durand keine übliche Händlerin. Sie verlangt von ihren noblen Kundinnen erst die Teilnahme an einer einleitenden Zeremonie, wobei die zwei sich brutalen Geiselhieben aussetzen müssen, um Blut für den Akt der Wahrsage zu schaffen. Sie werden in ein Kabinett geführt; es ist schwarz gestrichen; Instrumente der Chemie sind in ihm angehäuft. Clairwil und Juliette sind angebunden, so daß sie ihre Folterer nicht sehen können. Die Messe beginnt mit Auspeitschungen nur dann, wenn neue Mitglieder aufgenommen werden. Nach den Schlägen werden sie gezwungen, ein für sie unsichtbares männliches Geschlechtsteil aufzunehmen. Dabei fragt Clairwil besorgt, ob La Durand ,,des Mannes sicher (sei), der uns erlebt?‘‘ Dazu antwortet die Giftmischerin, ,,Einfältiges Geschöpf, es ist kein Mann, der sich an Ihnen erfreut, es ist Gott.‘‘ (ibid., s. 108)
Dieser Gott stellt sich als ,,ein alter Luftgeist‘‘ heraus. Dies ist der Geist des Sabbats, der zeremonielle Empfang des Teufels, dessen Spuren gleich wieder beseitigt werden. Juliette will sich vergewissern, daß La Durand für die Unfruchtbarkeit dieser Begegnung gesorgt hat: „(...) bedenken Sie vor allem, daß wir weder eine Geschlechtskrankheit noch Kinder haben wollen.‘‘ (ibid., s. 109)   

La Durands Antwort - ,,Bei Gott ist keines dieser Dinge zu befürchten‘‘ -
ist gleichzeitig eine Verhöhnung des Jungfrauenkultes sowie dessen Verkehrung, der unfruchtbare Geschlechtsakt mit dem Teufel. Nach dem Ende dieses Introitus zeigt die Durand ihre Waren; hier sind in Gestalt einer Warenprobe die Opfer der Messe vorgeführt - ein elendes kleines Mädchen wird von dem Luftgeist entjungfert und gleichzeitig mit dem Pulver einer grünen Kröte tödlich vergiftet. Nach dem Opfer folgt die allgemeine Orgie mit einem Jüngling, der trotz seiner angenehmen Züge abgerissen und elend aussieht, ,,so daß sofort klar wurde, aus welcher Klasse unsere Hexe ihre Opfer zu holen pflegte.‘‘  (ibid., s. 115)

Die Unterschichten treten nicht mehr als Akteure in dieser Verfallsform der Messe auf, sondern nur als Opfer adliger Triebe. Zum Höhepunkt der Orgie mit dem Jüngling, wo Clairwil ,,sein Glied in die Votze der Hexe‘‘ einzuführen versucht, springt sie zurück mit furchtbarem Schrei: ,,Was, diese Scheußlichkeit wollt ihr von mir verlangen. Ich mag das Ficken in der Votze nicht, übrigens kann ich es auch gar nicht: glaubt ihr denn, ich sei eine gewöhnliche Frau?‘‘ (ibid., s. 16)   Die Unfruchtbarkeit der Herstellerin von Giften und Abtreibungsmitteln ist vollkommen. Die Hexe ist ,,verschlossen“ , wie auch eine der vier Erzählerinnen in Sodom. Ihre Abgrenzung von ,,gewöhnlichen Frauen‘‘, die Ehen schließen und Kinder gebären, ist so offensichtlich wie die Negation der Fortpflanzung durch den Sabbat -,,das Fest der Unfruchtbarkeit‘‘ und der Blutschande.

Die Unfruchtbarkeit war ein sehr wichtiges Prinzip fast aller ketzerischen Sekten, einschließlich des Hexensabbats, worin die Sexualität die kultische Form der Anbetung annimmt. Für die frühchristlichen Phibioniten entspringt das Verbot des Nachwuchses aus dem Glauben an die heiligen und reinigenden Aspekte der männlichen Samen an sich (sie benutzten sie in einer Spermakommunion), wie auch der weiblichen ,,Samen“, das menstruale Blut heilig war. Für den satanischen Kult ist Unfruchtbarkeit zudem die Verkehrung des mosaisch-christlichen Satzes ,,seid fruchtbar und mehret euch‘‘. Die Unfruchtbarkeit des Geschlechtsverkehrs mit dem Teufel oder sogar mit natürlichen Männern, die am Sabbat teilnehmen, ist versichert: der kalte Samen des Teufels kann nie schwängern. Diese Qualität wird auch den natürlichen männlichen Teilnehmern des Sabbats verliehen.

Die Hexe ist angeblich die Frucht des Zusammenkommens von Mutter und Sohn.
[Dies ist allerdings nicht der einzige Weg, um Hexen zu produzieren: Eine Frau wird auch zur Hexe durch den Geschlechtsverkehr mit dem Teufel - dem sogenannten Incubus.]
Michelet erklärt die Lust zur Unfruchtbarkeit im noch aufständischen volksfestähnlichen Sabbat vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Misere dieser Zeit.  Bei de Sades Libertinern entspringt das Verbot der Schwangerschaft einer Liebeskunst, wie sie am Hof praktiziert wird,- denn Kurtisanen wollen nicht Mutter werden.

Blutschande  und   Unfruchtbarkeit  sind  ursprünglich miteinander verbunden. Nach Michelet ist der Inzest der Normalzustand der Leibeigenen im Mittelalter: einmal weil Inzest damals auch Heirat mit der Kusine sechsten Grades einschließt; zum andern, weil nur im engeren Bekanntenkreis die Unfruchtbarkeit bewahrt werden kann. ,,Eine starke Verschwörung, treue Einmütigkeit, die das Band der Liebe in der Familie fester knüpfte und die Freunde ausschloß; man vertraute nur den in ein und derselben Leibeigenschaft vereinigten Verwandten, die, da sie dieselben Lasten teilten, sich wohl hüteten, diese zu vermehren.“ (Michelet, op. cit., s. 108)

Inzest, Sodomie und alle Formen der unfruchtbaren Sexualität waren von der Kirche streng verboten; sie wurden allerdings im Sabbat praktiziert. Homosexualität und Sodomie waren von der Kirche als unnatürlich angesehen; zugleich stellen sie weitere Garantien für die Unfruchtbarkeit der Begegnungen dar: eine derartige Unfruchtbarkeit betonte die reine Sinnlichkeit des Erlebnisses. De Lancre berichtet mit Schauder, daß die Frauen immer mit Stolz von der völligen sexuellen Befriedigung beim Sabbat erzählen. Sades Libertiner behalten diese ketzerischen Formen der Sexualität bei, aber sie transformieren ihren Sinn. Sie werden nicht um ihrer selbst willen praktiziert, sondern als Prärequisiten für den Zugang zu einer ausgewählten Klasse. Ferner sichern fortdauernde Übungen dieser ,,Verbrechen“ die Beibehaltung der sozialen Position. Die soziale Funktion dieser aristokratischen Klasse verkümmert oder ist subsumiert unter die neue bürgerliche Herrschaftsform: einziges Mittel zur Konservierung der feudalen Form totaler Unterwerfung bleibt die Praktizierung sexueller Gewalt.

In ,,Justine‘‘ ist eine schwarze Messe bewußt eingefügt. In dem wieder sehr einsamen und abgelegenen Kloster von St. Marie des Bois verbringen vier Mönche - analog zu den vier Herren in Sodom — die Zeit im libertinären Treiben mit entführten Jungfrauen, die ihre Gefangenen sind. Eines Tages spinnen sie ihre Laster bis zu dem Punkt, wo sie die Jüngste beim lokalen Volksfest eine heilige Jungfrau spielen lassen und dabei reiche Opfergaben gewinnen. Am selben Abend und im selben Gewand wird sie zum Tisch gebeten. ,,Sie zogen das Mädchen nackt aus‘‘ berichtet Justine -,,und legten es bäuchlings auf einen großen Tisch, zündeten Kerzen an, stellten ihr zu Häupten das Bildnis unseres Erlösers auf, und vollzogen auf den Lenden der Unglücklichen frech unser furchtbarstes Sakrament.“ (Marquis de Sade, Justine oder vom Mißgeschick der Tugend, Frankfurt, s. 108, 1967)  Hier erscheint die Frau als Altar, in traditioneller Position der schwarzen Messe mit dem Bauch nach unten, und an diesem lebendigen Altar geschieht das blasphemische Sakrament.

De Sades Messe bleibt insofern ketzerisch, als sie immer die Gotteslästerung beinhaltet. Der Haß auf Gott bezeugt die Ablehnung der christlichen Moral und ist damit eine Form, in der die Grenzenlosigkeit der Machtausübung einer anachronistischen Klasse ausgesprochen werden kann. Wie Juliette beruhigt sagt, merkt man, aus welcher Klasse die La Durand ihre Opfer holt. Das bedeutet nicht, daß die Trennung von Opfer und Henker nur durch einen Klassenunterschied bestimmt ist. Clairwil findet ihren Tod, der nur in einer Fußnote vermerkt wird, mit Hilfe der Gifte der Durand, durch die Hände Juliettes. Aber, wie vorhin gesagt, erlaubt de Sades Einteilung in Inquisitor und Ketzer, Häretiker, Hexen es ihm den Rahmen wiederherzustellen, in dem Mord an armen Kindern und die Demütigung der Ehefrauen ,,Verbrechen der Kirche“ sind.

Die Doppeldeutigkeit der Ketzerei bei de Sade zeigt sich am Beispiel des Besuches des Bruders Clairwils, Brisa Testa, in der Loge des Nordens. Da befindet sich eine Geheimgesellschaft zur Verehrung und zum Rächen der letzten Großmeister des Templerordens Jaques Molay. Molay war noch vor dem Jahrhundert der Hexenprozesse (14. Jahrhundert) auf dem Scheiterhaufen wegen eines Verbrechens der Ketzerei verbrannt worden. Die Templer fungierten deshalb oft als Helden und Märtyrer der Hexen und anderer nachfolgender ketzerischer Bewegungen. Sie und ihr Führer Molay sollten - angeblich als Aufnahmeritual - eine Art schwarze Messe zelebriert haben, wobei sie Gott leugneten und danach eine homosexuelle Orgie feierten. Mit ihren orientalischen Erfahrungen - sie lernten die Männerliebe während ihres Aufenthaltes in Jerusalem praktizieren - haben sie die Ausschweifungen und den Gott des Ostens (Baphomet) mit zurückgebracht. Die Vernichtung der Templer findet allerdings zu einem Zeitpunkt statt, als sie schon längst keine militärische Funktion mehr im heiligen Kriege erfüllten. Wegen ihrer Eroberungen Besitzer von Geldkapital, war es ihnen möglich, neben den Italienern die Rolle der Geldwechsler und der Geldverleiher der Könige einzunehmen. Philipp der Schöne von Frankreich bemächtigt sich ihres Reichtums, indem er sie der Inquisition überstellt. Durch Tortur werden Molay und andere wichtige Templer zu öffentlichen Geständnissen gezwungen und damit der Orden desavouiert. Die Templer verschwinden aus dem öffentlichen Leben und werden als einst mächtige Institution auf einen ketzerischen Untergrund reduziert; sie sollten als Freimaurer weiterleben. Brisa Testa besucht eine dieser Logen, die im Namen vollendeter Despotie die Weltrevolution gegen die Tyrannei führen will. Beim Aufnahmeritus muß er einen jungen Mann erstechen und gemeinsam mit den Kumpanen das Blut trinken. Er muß Gott leugnen und das Verbrechen verherrlichen, schließlich eine Eidesformel aufsagen, die seine Treue zur Sache Molays verkündet: ,,Sie sehen in uns die Oberhäupter der Loge des Nordens, die Molay selbst in der Tiefe seines Gefängnisses in der Bastille gegründet hat. Wenn wir Sie bei uns aufnehmen, dann nur unter der ausdrücklichen Bedingung, bei dem Opfer, das Ihnen präsentiert wird, die Rache dieses ‚großen respektablen Meisters zu schwören und gleichzeitig die Eidesformeln zu erfüllen (...)’ Ich schwöre alle Könige der Erde zu vernichten, einen ewigen Krieg gegen die katholische Kirche und den Papst zu führen, die Freiheit der Völker zu rühmen und eine universale Republik zu gründen.‘‘ (de Sade, Juliette, op. cit., s. 203)

Was diese universale Republik bedeutet, erklärt Brisa Testa seiner Gefährtin: ,,Nicht wegen des Schreckens vor der Tyrannei ist der Senat von Schweden bereit, sich gegen den Herrscher aufzulehnen, sondern wegen der Eifersucht, diesen Despotismus in anderen Händen als den seinigen zu sehen.“( ibid., s. 200)
Sade bedient sich der Sprache, der Symbole und Rituale der Subversion, um sein Bild von einer Herrschaft selbstherrlicher Libertins zu entwerfen. Diese Herrschaft mißt sich nicht an der Zukunft einer totalitären Vernunft, sondern an den vergangenen Gewohnheiten einer grenzenlosen persönlichen Macht, die der Feudalherr über seine Leibeigenen ausgeübt hat; denn Grausamkeit, Plünderungen, und sinnliche Exzesse waren die Privilegien seiner Klasse. Die Freiheit bei de Sade ist die Freiheit dieser Macht, sich in der Kunst der höfischen Liebe, in den ,,Köstlichkeiten der guten Gesellschaft‘‘ zu verfeinern, wie es in der Loge des Nordens heißt. (ibid., s. 198)  Sade, mit diesen Köstlichkeiten aufgewachsen, hält sich, einquartiert in die Bastille - wie Molay - für einen Märtyrer der Inquisition. Zwar befreit die Revolution de Sade aus der Bastille, ihre Ziele jedoch kann der Marquis nur in der ihm vertrauten Sprache der Ketzerei fassen. Was er formuliert, sind nicht Aufforderungen eines Jakobiners, sondern die bitteren Anklagen eines Adligen, der sich von seinen Rivalen in Monarchie und Kirche entmachtet fühlt. Wie der nordische Verschwörer verspricht er, diese Macht zu restaurieren mit Hilfe des weltrevolutionären Kampfes für die universale Republik. An diesem Ziel hält de Sade unter allen Umständen fest, so läßt er Brisa Testa im Zusammenhang mit dieser Ambition zu seinem Gastgeber sagen: wenn auch ,,das ganze Universum von meinen Händen zerstört würde, würde ich keine Träne vergießen (...)“.  (ibid., s.205) 

Sehr oft wird die These vertreten, de Sade sei einer der radikalsten bürgerlichen Aufklärer gewesen, weil er im Namen von Tyrannenmord und vom Ende des Aberglaubens die vollen Konsequenzen einer befreiten Natur ausdrückte. In einer anderen These heißt es, er wolle - wie er auch selber sagt - mit der Beschreibung von Untaten, gemäß den Klassikern, Schrecken und Mitleid erregen; [De Sade bezieht sich hierin auf die klassische Idee der Katharsis; siehe seine ,,Gedanken zum Roman“, in Marquis de Sade, Ausgewählte Werke, Bd. 5, Hamburg, 1962] und nur die tiefe Enttäuschung über die folgenlose Predigt einer abstrakten Moral lasse ihn - ähnlich Swifts Propagierung der Kinderfresserei zur Lösung der irischen Frage - die Phantasie einer edlen Gesellschaft des Verbrechens zeichnen. Eine dritte besagt, das Verbrechen bei de Sade sei eine Utopie und die Grundform seiner Psychologie des Genusses. Lust sei im Schoße des Verbrechens zu suchen. Wie die sensualistischen Materialisten seiner Zeit suche de Sade nur die Natur nachzuahmen, indem er die Unbarmherzigkeit ihrer Zyklen, die Grausamkeit ihres Gleichgewichts, die Gleichgültigkeit des Leidens, die Gesetzlosigkeit ihrer Bewegungen zu Gesetzen menschlichen Verhaltens erhebe.

Dagegen habe ich zeigen wollen: De Sade gehört zu einer besonderen Kategorie der aristokratischen Paria. Seine Vorgänger waren Gilles de Rais und der entehrte Orden der Templer. Der Kult der Ketzerei wie er von diesen Ausgestoßenen der oberen Schichten praktiziert wurde, war nie identifizierbar mit dem realen kollektiven Haß und der Rebellion gegen die soziale Ordnung, die man im frühen Hexensabbat finden kann.

Die Verhöhnung des kirchlichen Glaubens und die Praktiken die um nicht-konventionelle und brutale Akte zentriert sind, wie in der Ketzerei Gilles de Rais oder der Templer, ist auf die Redundanz der sozialen Funktion dieser feudalen Charaktere zurückzuführen. Diese Typen sind überflüssig geworden. Die Hierarchie hat sich einer Transformation unterzogen; mit der Konsolidierung des absolutistischen Staates sind wirtschaftlich und militärisch unabhängige Adlige weder gewünscht noch notwendig. Die weitere Veränderung in der Geschichte der ketzerischen Praktiken, die Sades Schriften reflektieren, ist deren Assimilierung durch die Aristokratie, nicht zum Zweck des Vollzugs sexueller Befreiung, sondern privater Statusziele. Diese beiden Merkmale der Ketzerei der oberen Schichten konstituieren die Formen sexueller Rebellion in Sades Schriften. Deshalb sind Sades Frauengestalten nicht als emanzipierte anzusehen; sie nehmen eine aktive Rolle nur insofern an, als sie zur Rekonstruierung einer Struktur für die totale Subordination beitragen, als sexueller Henker oder Herrinnen. Umgekehrt, in ihrer Passivität füllen sie die niederen Ränge dieser Hierarchie aus. Sie sind gezwungen den Herren dieses geschlossenen satanischen Kultes zu dienen und sie zu verehren. Die Stelle in der Hierarchie ist durch die eingenommene Position in den sexuellen Akten definiert: die Sexualität fungiert nur instrumentell zur Bestimmung des Status der verschiedenen Teilnehmer. Mithin ist die Frau der Schlüssel für die Umwertung aller Werte - wie Klossowski und Adorno/Horkheimer gesehen haben. Das Wertsystem ist freilich nicht das der aufkommenden Bourgeoisie, sondern ein Überbleibsel des weiblichen Protests gegen die Frauenrolle in der christlichen mittelalterlichen Gesellschaft, in die Transformation des aristokratischen Niedergangs verpflanzt. Somit lebt eine plebejische Protestform in aristokratischen Manieren weiter - als Verkehrung - und keineswegs ketzerisch.

Genau die Charakteristiken der ketzerischen Sekten, welche ihren Aufruhr gegen die Verleugnung und Disziplinierung des sinnlichen materiellen Lebens ausdrücken, sind in de Sade verkehrt vorhanden; sie sind transformiert. Sie dienen ihm zur Wiederherstellung einer vergangenen Form der Macht. Die totale und freiwillige Unterwerfung unter den Teufel - als Gegenprinzip zu ihrer doppelten Leibeigenschaft - das falsche Martyrium der Hexen, ist zur gezwungenen  Selbstaufopferung der Objekte der Sadeschen Libertiner geworden. Die Frauen und Männer im Schloß Silling haben keinen anderen Herren als jene vier Wüstlinge, denen sie ,,blindlings zu gehorchen‘‘ haben. Der klandestine Charakter der Sekte ist kein Zeugnis einer subterranen Revolte gegen die herrschenden Mächte, sondern er entsteht aus der Notwendigkeit, eine nicht mehr gesellschaftlich legitimierbare Unterwerfungstechnik zu verheimlichen.

Der extreme Hermetizismus der Sadeschen Gesellschaft (in den Eingeweiden der Erde) und die Unfruchtbarkeit des sexuellen Aktes bezeichnen auf einer anderen Ebene die Nichtigkeit des Versuchs, den Tod der sozialen Form zu transzendieren, in der Sades Libertiner einst ihre Stelle eingenommnen hatten. Sie sind verdammt, wie in den ursprünglichen satanischen Kulten, nur die Rolle bloßer Negativität zu spielen – „wenn auch das ganze Universum von meinen Händen zerstört würde, würde ich keine Träne vergießen‘‘. Sie können aber nie als Herren der Schöpfung wiedergeboren werden.









*zuerst erschienen in: digger Nr. 1, Zeitschrift des Instituts für Sozialhistorische Forschung, Frankfurt, 1981, S. 20-38