Donnerstag, 18. Februar 2010

Wille zur Endlichkeit

Die Endliche Masse – Das Zerfallende Objekt

Heutzutage verkörpert die Masse den Willen zur Macht.  Ein ‚Übermensch’ existiert nur dann, wenn er seine Zugehörigkeit zur Masse unaufhörlich beweisen kann.  Sobald er von der Masse abrückt, fängt sein Untergang an.  Zwangsläufig ist dieser auch der Untergang der Masse.  Das alles mag eine Weile dauern.  Mit dem Willen zur Macht der Masse entsteht ein neuer Machtbegriff – weder göttlich noch mythisch auch nicht politisch – aber endlich.  Von Nietzsche erfährt man viel über Willen zur Macht, wobei die Betonung immer auf Willen sei.  Über die Art der Macht gibt er wenig Auskunft.  Wie in „Menschliches, Allzumenschliches I“ im Abschnitt 460. „Der grosse Mann der Masse“, dort schreibt er: „Die Masse muss den Eindruck haben, dass eine mächtige, ja unbezwingliche Willenskraft da sei; mindestens muss sie da zu sein scheinen.  Den starken Willen bewundert Jedermann, weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt, dass, wenn er ihn hätte, es für ihn und seinen Egoismus keine Gränze mehr gäbe.“  Die Macht scheint hier dem Egoismus eng verwandt zu sein -  vor allem in seiner Begrenztheit.  Vom starken Willen des großen Mannes erhofft die Masse die Aufhebung der Grenze seines eigenen Egoismus.  Dabei aber entsteht noch keine unbegrenzte Macht – die Macht ist immer durch die Art der Begehrlichkeit der Masse beschränkt.  Sie ist eine endliche Macht.

Solch eine Masse gibt es erst als Aktualität und Möglichkeit seit dem Sturm auf die Bastille.  Es ist nicht eine Frage der Quantität.  Eine Person kann schon eine Masse für sich sein – wie Tibull sagte, in solis sis tibi turba locis. ( Sei in der Einsamkeit dein eigenes Volksgetümmel.  Tibull, Eleg., IV, XIII, 12)

Bedrohlich wird es  dann wenn die Masse dir wie ein Doppelgänger zusetzt, der dich von deinem Vorhaben abzuhalten versucht als sei es sein eigenes – so wie es in Kafkas Erzählung „Entlarvung eines Bauernfängers “geschieht.  „Sie stellten sich vor uns hin, so breit sie konnten; suchten uns abzuhalten von dort, wohin wir strebten; bereiteten uns zum Ersatz eine Wohnung in ihrer eigenen Brust, und bäumte sich endlich das gesammelte Gefühl in uns auf, nahmen sie es als Umarmung (...)“

Die Masse begreift sich (und sie erfährt keinen Widerspruch) als höchstes Gut.  Ihre Herrschaft über die ganze Welt auszubreiten ist der Wunsch der Masse.  Die vergangenen Reiche basierten auf Berufsarmeen, Herrscher und ihre Höfe.  Die Masse existierte nicht – Francis Bacon nannte sie „commons“, von ihnen hatte der Herrscher wenig zu befürchten, „außer dort wo  sie große und einflussreiche Oberhäupte haben; oder wo Du Dich in den Punkt der Religion einmischst, oder in ihre Gewohnheiten oder in ihren Lebensunterhalt.“ 
(„...there is little danger from them, except it be where they have great and potent heads; or where you meddle with the point of religion, or their customs, or means of life.“  „Of Empire“ in Bacon’s Essays, New York, 1909, p.160)

Die wiederkehrenden Aufstände wie die Bauernkriege wurden hauptsächlich von Berufsverbänden angezettelt.  Sie hatten eindeutige Forderungen.  Cromwells Armee stellte eine frühe ungewöhnliche Kreuzung aus Masse und Berufsverband dar.  Die „New Model Army“ entstammte einer losen Bevölkerungsgruppe der ‚herrenlosen Männer’.  Sie verwandelte sich im Verlauf der englischen Revolution in einen Berufsverband um nach dem Scheitern der Revolution sich wieder in Nichts aufzulösen.  Die Endlichkeit der Armee-Masse versteckt sich hinter ihrer Verlorenheit im doppelten Sinn (Niederlage und Verschwinden).  So ähnlich verbirgt Badious Schlüsselbegriff – „Treue zum Ereignis“ (wie zum Beispiel zur Revolution von 1917) – ein heimliches Geständnis der Endlichkeit.  In Badious Darstellung schwebt die „Treue“ eines „Subjekts“ in der „Situation“ unentwegt zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit.  Dennoch, gäbe es keine Endlichkeit des Ereignisses wäre die Treue überflüssig.  Sein Begriff der „Treue“ ist eine getarnte Endlichkeit.  Er löst deshalb jede spezifische Treue zum historischen Ereignis in der Treue des endlichen Subjekts zum Ereignis seines Selbst auf – „(...)let’s be faithful to the event that we are.“ (Being and Event, Übersetzung von Oliver Feltham, London, 2007, p.236)
Man könnte Badious „Treue zum Ereignis“ auch als eine quasi-mathematische Umschreibung Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sehen – wobei ‚verloren’ gleich ‚endlich’ zu verstehen wäre.

Die Masse selbst weiß nicht was sie will.  Sie will nur weiter fortbestehen (wie Canetti sagt) im Gefühl des unbedingten Herrschens und Begehrens.  Jedoch, weil die Masse endlich, der Wille der Masse in seinem Sein zu beharren unendlich ist, erlebt die Masse ihre zerfallende vorläufige Natur als ein Rätsel.

So wie früher der König derjenige gewesen ist, der viel zu befürchten und wenig zu begehren hat, befindet sich heute die Masse in jenem königlichen Zustand des unklaren und dahinwelkenden Bewusstseins. 

Der Führer der aus ihren Reihen aufsteht und von ihnen getragen wird, muss die Fähigkeit besitzen professionell und hauptamtlich das endliche begehrliche Massengefühl vor dem Zerfall zu bewahren.  So gesehen wäre nach Badious System jener Führer das einzige treue Subjekt des Ereignisses ‚Masse’. 
 

„Trinitarische Formel“

Die Macht ist oft kraftlos.  Sie muss keine Kraft entwickeln, sie ist jenseits der Kraft.  Die Kraft, die sie im Voraus verausgabte um erst Macht zu werden, verschwindet in der Macht selbst.  Sie wird nie wieder einen solchen Kraftaufwand benötigen.  Auch wenn Macht zu wachsen scheint, tut sie es bei absteigendem Kraftaufwand.  Daher erklärt sich das Phänomen, dass mächtige und übermächtige Gebilde, so leicht zu stürzen sind.

Widerstand dagegen ist der pure Kraftaufwand, aus der Machtlosigkeit heraus.  Zum Widerstand bedarf es eines außerordentlichen Quantums an Willen oder an Willensstärke.  Deshalb ist der Begriff – Wille zur Macht -  eigentlich sinnlos, bedeutungslos.  Wenn man Macht hat, braucht man den Willen nicht.  Nur wenn man keine Macht hat, was heißt, dass man von bestehender Macht daran gehindert wird, Macht zu haben – dann braucht man den Willen, nicht zur Macht, sondern zum Widerstand.  Macht ist der Trägheit (Inertia) verwandt.  Macht ist kein dynamischer Begriff.  Deshalb sind alle Direktoren im Kafkas Schloss so müde. 

Es gibt keinen Widerstand in der Welt des Unfall-Gehülfens – weil sie eine Welt der puren Macht ist.  So wie im luftleeren Raum – da fliegen die Flugzeuge am besten, weil kein Luftwiderstand sie daran hindert. (siehe Experimenten Buch)  Überhaupt, die Welt der puren Macht ist eine Welt ohne jegliches Hindernis.