Der Coletichenbäcker zu Prag lebt auf einer äußerst schmalen abschüssigen Gasse im alten Prag. Er ist fast so alt wie die Gasse, die sehr alt ist. An manchen Stellen ist die Gasse so eng, dass man nur auf einer Seite in die Häuser hineingelangen kann. Will man in das Haus Nummer 10 eintreten, muß man durch den Eingang Nummer 7 auf der gegenüberliegenden Seite hineingehen, danach steigt man 3 Stockwerke hoch, wo man einen Durchgang findet. Der Durchgang ist ein schmaler Holzsteg, so wie sie auf freiem Feld manchmal zu sehen sind. Er ist auf beiden gegenüberliegenden Fensterbänken fest anmontiert. Glücklicherweise ist der Weg nur 3-4 Schritte lang – die zwei gegenüberliegenden Häuser berühren sich fast an dieser Stelle. Es ist nur manchmal unangenehm wenn ein Durchgang, der der eigentliche Eingang eines anderen Hauses ist, ganz oder teilweise durch die Wohnung eines privaten Menschen geht. Der Inhaber oder Bewohner einer solchen Durchgangswohnung zahlt selbstverständlich weniger Miete. In manchen Fällen bekommt er für Conciergedienste sogar eine Zusatzzahlung.
Der Laden des Coletichenbäckers zu Prag befindet sich in einem Haus, das man nur so über einen anderen Eingang erreicht. Nach vielen langwierigen Verhandlungen mit den Bezirksbehörden, bekam der Bäcker die Erlaubnis die Durchgangswohnung als seine Geschäftswohnung zu beziehen. So störte seine rege Laufkundschaft nur ihn und sonst niemanden. Er selbst bewohnte die Wohnung nicht. Sein verarmter Onkel Fritz, von dem er das Handwerk gelernt hatte, bewohnte die Durchgangswohnung. Seit Onkel Fritz unter der ‚Mehllunge’ litt, konnte er die Coletichen nicht mehr backen. Er musste seine eigene Bäckerei aufgeben – so lebte er von der Großzügigkeit seines Neffen.
Wenn man den Laden nicht kennen würde, hätte man große Schwierigkeiten ihn zu finden. Kein Namensschild ist unten an der Tür angebracht. Nicht neben dem unbenutzbaren Eingang auf der ‚richtigen’ Seite der Gasse – und nicht am Eingang des gegenüberliegenden Hauses. Bloß ein fast entfärbtes hölzernes Coletchen, das an einem knapp von der Mauer herausragenden verrosteten Haken befestigt ist, lässt vermuten, daß ein Coletichenbäcker in der Nähe sein Handwerk betreibt.
Der Coletichenbäcker hat drei Söhne. Einer ist ihm ganz an die Astronomie verloren gegangen. Er sieht nur noch seine geozentrischen Kreise - für ihn ist das Coletchen nur noch ein solcher Kreis. Alles was mit der Bäckerei, der Kundschaftsbedienung, des Sauberhaltens des großen Bottichs, wo der Coletschenteig gemischt wird, zu tun hatte – das alles haftete an ihm nur so weil es nicht so einfach von ihm abfiel.
Der zweite Sohn liebte die Pflanzen. Er ist zwar nicht ein Gärtner – dazu fehlte ihm die Erde. Aber durch Verwehungen häuften sich kleine Erdhügel an den Fensterbänken und wegen der tropischen Hitze, die durch die großen Coletschenöfen Tag und Nacht erzeugt wurde, wuchsen dort manchmal ganz überraschende Gewächse. Er hegte insbesondere seine prächtige Minzenkollektion, die auf einer Fensterbank Kolonien bildete. Der Bäcker und seine Familie hatten immer frische Minze für ihren Tee. Aus den Mauerritzen um den Fensterrahmen wuchsen auch allerlei Pflanzen wie Valerian, verschiedene Farne, auch rote Weinreben die nur in südlichen Ländern beheimatet sind. In der Dachtraufe wucherte eine große Plantage von alchemilla mollis. Der Sohn erreichte die Plantage hochkletternd auf einer Leiter, die von der Bäckerei bis zum Dachboden reichte. Mit jener Pflanze versorgte er seine Mutter und Schwester mit allem was sie für ihre Frauenleiden benötigten.
Der Coletichenbäcker hieß Schlaf. Sein astronomischer Sohn hieß Ernst und der Pflanzenliebhabersohn hieß Paul.
Der dritte Sohn Hans war der eigentliche Nachfolger des Handwerkbetriebs. Er haßte alles, ausgenommen das pure Geschäftemachen. Alle Menschen, vor allem die Kunden, meinten, daß Hans der Bestgelaunte von allen im Haushalt war. Er pfiff immer irgendwelche Gassenhauer, knetete den Teig und formte die Coletschenräder mit großer Energie und Geschicklichkeit. Er spornte alle anderen an. Niemand hätte geahnt, daß er von üblen, mißmutigen, unzufriedenen Gedanken geplagt war. Vor allem haßte er die Astronomie und die Botanik. Wenn er einmal eine freie Minute hatte, las er in irgendwelchen staubigen Geschichtsbüchern, welche in den Wohnungen, von den verstorbenen erblosen Mietern des Hauses übrig geblieben waren. Solche Bücher hatten meist eine patriotische Färbung, so stärkten sie in Hans seine naturgegebene Kampfeslust.
© Shannee Marks, September 2012
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