Donnerstag, 31. Dezember 2009

Das Gesetz des Unfalls



Alles was hier unten im Dorf zwischen uns geschieht ist natürlich, alles was zwischen Gentlemen und Kadetten auf dem Hügel geschieht ist auch natürlich – wenn ein bloßer Dörfler und ein Hügelwesen sich begegnen entsteht etwas Unnatürliches, was seine Erklärung in den Gesetzen des Unfalls suchen muss. Darüber nachzudenken ist etwas sehr Dunkles beweisen zu wollen, durch etwas anderes, möglicherweise noch Dunkleres.


Jene Gesetze sind Naturgesetze von einer vergänglichen Art. Der Überschuss an Leidenschaft, der aus der unnatürlichen Begegnung hervorgeht, bürgt für die Zuverlässigkeit des vergänglichen Naturgesetzes. Die Anhäufung von Zufallsentscheidungen, Aktionen, Versäumnissen, Gelegenheiten und Möglichkeiten erzeugt die Regelmäßigkeit des Unfalls. Unfälle sind vom Willen durchgeführte Aktionen wobei dieser Wille nur das natürliche Mittel eines vergänglichen Naturgesetzes ist. Aber nicht eine Erzeugung nach Wunsch oder Plan, nicht einmal gegen Wunsch oder Plan. Das Ergebnis mag immer dasselbe sein, die Zusammensetzung der leidenschaftlichen Gründe kann eine unendliche Variationskraft aufweisen. Man könnte dann behaupten, es gäbe gar kein Verhältnis zwischen den Aktionen der Menschen und dem Unfall, es wäre genauso richtig, als wenn man sagen würde, ihre Aktionen führen zum Unfall, ob sie wollen oder nicht. Oder wie Lermontov’s „Held unserer Zeit“ den Badearzt Werner fragt – ist nicht die Ahnung von einem gewaltsamen Tod auch eine Krankheit?


Ich würde als Unfall Gehülfe hinzufügen, - was ist der Unterschied zwischen dem anhaltenden unbegründeten Gefühl des Gerettet-seins und jener Ahnung von einem unmittelbar bevorstehenden Unglück? Wenn man das Gefühl hat, dass das eigene Überleben von jedem Augenblick an zum unendlich entfernten nächsten Augenblick von einer fortwährenden Rettung abhängt, befindet man sich nicht genauso im Bezirk des Prekären, wie jemand, der meint, dass der jetzt gerade gemachte Schritt in den Abgrund führt? Dieses Gefühl ist genau das was uns mit all den höheren Sphären aufs innigste verbindet: Die Sphäre des Unfalls, oder was dasselbe ist, die vergängliche Natur, die von vergänglichen Naturgesetzen beherrscht wird. Was ist logischer oder natürlicher als dieses? Wenn die Natur vergänglich ist, warum sollten die Naturgesetze nicht auch vergänglich sein?
Der Unfall ist so gesehen das Gericht in dem man „dem Schicksal Gerechtigkeit abtrotzt“ (Seneca) oder der algorithmische Umweg auf dem man durch la physique de fortune bei la physique de morale (Laplace) ankommt.


[Ich würde nicht von vornherein sagen wollen, dass Leibniz vollkommen Unrecht hatte. Vielleicht irgendwann nach der Zeit der vergänglichen Naturgesetze wird die Zeit der prästabilisierten Harmonie des Universums einbrechen. In dieser Behauptung liegt wie im ganzen Universum der Abriss von Instabilität und Ungewissheit der Dinge.]


Es gibt eine grundsätzliche Instabilität im Bau der Welt oder der Welten - nirgends so spürbar wie auf dem Wasser. Das Newtonsche Gesetz – für jede Aktion gibt es die entsprechende gleich starke Reaktion - beinhaltet keine Angemessenheit oder Gleichmäßigkeit im Ganzen. Gerade dieses Gesetz, nur dem Schein nach ausgleichend, trägt am häufigsten zur Instabilität bei. Durch die Natur wie durch alle Sachen geht ein Riss. (Emerson) Der Ausgleich, wenn überhaupt, ist etwas Aktives, kommt jedoch verspätet, ein Hinterher- sein ohne jemals etwas aufzuholen. Man baut die Grundsätze der physikalischen Geometrie auf der Verlagerung von starren Körpern auf, in sich die Erwartung eines Unfalls tragend. Die Kunst des Schiffes sich auf dem Wasser aufrechtzuhalten, dreht sich um die ständige Verhütung eines Stabilitätsunfalls.
Eine Aktion ist oft bloß die angestrebte Vermeidung der unerwünschten Zustände des Scheiterns – eine positive Negation.


Das Gemüt auf dem Lande kann „ausgeglichen sein“ – auf dem Wasser droht alles bei dem kleinsten Hindernis auseinander zu brechen. Das Wasser versinnbildlicht die Instabilität im Universum. Ein Flussdampfer voll von einer Vergnügungsgesellschaft kann in einer Minute auf die Seite rollen und in der nächsten Minute untergehen. Man hatte in der Anfangszeit der Gentleman-Schule nur ein einziges Kapitel aus der Physik den Kadetten eingepaukt – die Lehre von der Schwimmfähigkeit.
Damit ein Schiff nicht sinkt, verzichten Kapitän und Mannschaft auf den gesunden Zustand der Ruhe zu Lande. Sie leben in einem fort in dem ungesunden Zustand von steter Abwechslung zwischen Irritation und Erschlaffung, die allen Fortschritt ausschließt. Ein ewiges Schwanken ohne je zum Ziel zu kommen. Wobei das Ziel nur der Unfall sein könnte, jeglicher Fortschritt bloß in dieser Richtung zu machen wäre.


So war es gewesen, als die Schule für eine logische Sekunde mehr als bloß ein ornamentales Verhältnis zum Wasser und zur Schifffahrt hatte. Auf dem Lande gelten ganz andere Regeln – die von der Liebe, die umsonst ist.


Auf dem Wasser folgen der Unfall und die Verhütung des Unfalls einer Bewegung des Schwankens, auf dem Lande folgen der Unfall und die Liebe der Bewegung des Springens, des Überspringens. „Das Nächste des Gefühls wird nun übersprungen; die Station, die in der Erleuchtung als die erste am Wege zum Fernsten erkannt ist, tritt nun für jenes Nächste ein; ihr möchte die Liebe im Sprunge zueilen. An Stelle des Nächsten tritt der Liebe das Übernächste. Den Nächsten verdrängt ihr der Übernächste. [wie es geschah als ich zwischen dem Geigenlehrer und dem Kadetten Tim, der unser Konzertmeister gewesen ist, saß – übersprang die Liebe mich, ‚das Nächste’, und eilte ihm zu, dem Übernächsten] Sie (die Liebe) übersieht und überhört den einen, um im gewaltig=gewaltsamen Überspringen den anderen zu erreichen. Und weil sie Liebe ist und also immer wirkt, so muss es ihr auch gelingen.“ (Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Dritter Teil, Frankfurt, 1930, S.14)


Wie das Gebet, hat der Unfall auch den gezielten und ausreichenden Schwung das Nächste zu überspringen. Bei der Abwehr des Unfalls gilt es genau im Abschnitt des Übersprungenen zu bleiben – wenn möglich. Es war mehr als töricht von mir, dem Unfall Gehülfen, in der Gentlemans Liebe, die umsonst ist, aufgenommen und eingeschlossen werden zu wollen. Als Gentleman fragt man sich nicht ob man einen Gehülfen liebt oder nicht – man überlegt höchstens ob der Gehülfe taugt oder nicht. Meistens taugt er nicht.


Dennoch ist eine Anziehung zwischen uns nicht zu leugnen. Ihre Erklärung findet man in den Gesetzen des Unfalls, die man auch Gesetze der Ablenkung nennen könnte. Der Unfall Gehülfe besteht aus einem starren Körper. Er verlagert sich kaum oder gar nicht. Der Gentleman ist die ständige Bewegung. Was können solche für ein Verhältnis haben? Der eine wird zwangsläufig auf den anderen treten müssen. Auf dem Weg zum Übernächsten. Da musste der Unfall Gehülfe in Verzweiflung geraten, wäre er nicht auf Grund seiner unverrückbaren Statik ins Gleichgewicht gedrängt worden. Die Schule wiederum ist das tatsächliche Ende einer Bewegung; eine Reichsbewegung, die ihre Linien über die ganze Welt gezogen hat und an ihr Ende in der „steinernen Fregatte“ zur Ruhe gekommen ist.


Die natürliche Immobilität des Gehülfen ist für den Musikdirektor eine Art Jungfräulichkeit, weil sie nicht einfach das Aussterben einer Bewegung ist. Bewegung oder Bewegtheit gehören dem Gehülfen nicht an, sie sind keine Attribute des Gehülfen. Umgekehrt, würde ein Gehülfe in Bewegung geraten, wäre es geradezu unheimlich. Ohne Bewegung zu sein ist kein Mangel – für den Gehülfe wäre die Bewegung der Unfall. Für den Gentleman ist das Ende der Bewegung eine Art Unfall, der noch nicht stattgefunden hat. Er möchte den Unfall vorwegnehmen in seiner Wachsamkeit. Diese den Unfall vorwegnehmende Wachsamkeit nennt er Liebe. Der Musikdirektor sehnt sich nach dem Unfall Gehülfen, wie die Bewegung nach seinem Ende auf der unendlichen Schiefe.


Ist die Rettung die „Korrektur“ des Unfalls – Ausgleich des zuviel oder des zuwenig? Das Geheimnis des Unfalls liegt in der Rettung, auch wenn sie nicht stattgefunden hat.





























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