Donnerstag, 25. Dezember 2014

Tucholskys Sekunden-Liebe


Tucholsky schreibt einen verspielten Roman über Schweden.  Der Roman ist ein Ferien-Roman, den er während seiner Ferien auch niederschrieb. Man bekommt den Eindruck, daß er viele andere Nichtferien-Romane schrieb – ganz im Gegenteil – sein Ferien-Roman war sein Einziger.  Der Roman heißt Schloß Gripsholmeine Sommergeschichte.  Im Roman fährt er nach Schweden mit seiner Freundin, die er Prinzessin nennt.  Sie nennt ihn oft Daddy, manchmal Fritz, gelegentlich Peter, je nach Laune.  Sie ist eine Sekretärin (wie alle Prinzessinnen) und sie heißt Lydia.  An ihr liebt er vor allem ihre tiefe Plattdeutsch sprechende Alt Stimme.  Sie hat auch ein außerordentliches gutes Timing im psychologischen Sinn – vor allem beim Blind-Spucken im leeren Zugabteil.  Im Schlaf sieht sie nicht dumm aus – was leicht möglich wäre – männlich nüchtern ist sie wenn sie ihm sagt – „Wir müssen alle sterben, Du früher, ich später.“  Wenn „die Prinzessin“ mal ihre Handtasche nicht findet – fragt sie „Hast Du den Dackel gesehen?“






Sie singen auch gemeinsam Reise-Lieder auf der Reise.  Es ist alles so beschwingt, lustig, großstädtisch – eine überdurchschnittliche Büroliebschaft.   Obgleich die Schweden Reise ‚ordentlich’ geplante Ferien waren (die Reisekasse hatten sie sechs Monate lang zusammen gespart) – haftet an der Erzählung das unverkennbare Gefühl des ‚nie wieder’ – die großstädtische Stimmung einer Oase auf kurze Zeit. Ganz ausgeprägt ist solche flüchtige halb-tiefe Wehmut in Tucholskys Gedicht von der täglichen Fahrt zur Arbeit in der Großstadt:

Augen in der Groß-Stadt

„Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
Wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen
da zeigt die Stadt
dir Asphalt glatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.“

Tucholsky verzaubert mit seinem bitter-süßen vereitelten Liebesglück in der Großstadt, Walser dagegen denkt daran wie er einmal im Auto an einer Frau vorüber flog, die er möglicherweise (wenigstens in der Einbildung) in der Provinzstadt im Stich gelassen hatte.  

Jenes kurzlebige Fast-Glück, wobei das eigentliche Glück im Rausch des Verpaßtseins liegt – das beschreiben gewisse mittel und -osteuropäische Artisten am besten, so auch die Comedian Harmonists in ihren vielen Liedern – wie zum Beispiel In der Bar zum Krokodil oder Du bist nicht die Erste. Ganze Welten von untergegangenen, untergetauchten Sentimenten gehen dahin – so veraltet wie der Gebrauch des Tachistoskops für die psychologische Abrichtung. 

Alles mag schnell vorbeigehen – die Liebe wie die Verkehrsmittel – aber das Organische bleibt langsam – die Verdauung ist nichts Eiliges – außer wenn ‚die Liebe wie Sekt ins Blut’ geht.  So bewundert Lydia die Art wie ihr Freund „frißt“ – „(...) so viel und so schnell“.
„ „Lydia“, sagte ich, „Wir können auch im Speisewagen essen, der Zug hat einen.“ – „Nein!“, sagte sie. „Im Speisewagen werden die Kellner immer von der Geschwindigkeit des Zuges angesteckt, und es geht alles so furchtbar eilig – ich habe aber einen langsamen Magen...“ “ Ein seltener wahrer Satz der Weltliteratur.  Als Vor-Verdauungsgespräch.    






Tucholskys Großstadt Elegie für das nur knapp aber als mögliches imaginiertes Liebesglück Gesehene, verkommt zu etwas ganz ordinärem im Londoner Schund-Blatt „Metro“, was man umsonst am vorstädtischen Bahnsteig mitnimmt.  Am Abend fliegen die zerlesenen Fetzen in der verbrauchten Luft des Zugabteils herum.  

Die Zeitung nimmt Suchanzeigen auf von jenen die sich in Personen verlieben, die ihnen im Bus, Zug oder Underground nur kurz aufgefallen sind.  Oft sind es Personen die sich sowieso regelmäßig sehen müssen – weil sie beide dasselbe ‚commute’ haben.  Sogar Kartenverkäuferinnen werden als Göttinnen verehrt.  Sie sind aber eher stationär.  So schrumpft die riesige Tombola der Großstadt zu etwas berechenbarem, reizlosem zusammen.  Die verlorene Zeit der Arbeitsfahrt soll wenigstens noch für die Liebes-Ökonomie rentabel gemacht werden. 
   
Später verlegte Tucholsky seinen Wohnort ganz nach Schweden, als er, wie Heine, zu Deutschland auf Distanz ging.
Dort im Ferien-Roman Land nahm er sich das Leben.  Schloß Gripsholm verwandelte sich letztendlich in Rosmersholm.      




Mittwoch, 17. Dezember 2014

Der Ernstfall


Wenn man Politik treiben möchte, dann muß man eine bestimmte Gruppe Menschen lieb haben.  Oder?  Oder man muß sich selbst lieb haben auf eine ganz bestimmte Weise.  Man muß von seiner Generation sprechen können, von seinem Land, von seiner Stadt, von seiner Einkommens- und Bildungsgruppe.  Man muß dort wenigstens Ähnlichkeiten zwischen sich und dieser Gruppe feststellen, auch wenn von Liebe nicht die Rede sein kann.  Und dann?  Was dann? Man muß sich wandeln können, im Gleichschritt mit dieser Gruppe, sonst geht man sich besser eine neue suchen.  Dies ist meistens viel zu aufwendig und nicht immer erfolgreich.  Dieser Wandel soll auf keinen Fall im Widerspruch zum eigenen Zuwachs von Standhaftigkeit, Angesehensein, Unentbehrlichkeit, Entschlossenheit geraten.  Sonst wäre alles vergeblich.  Man muß sein In-der-Gruppe-Sein hüten, wie der Geizhals seine Taler.  Keinen einzigen möchte er missen, gleich wie viele er hat.  Jeder Taler ist ein ganz unersetzbarer Teil seines Reichtums, und dessen Verlust bedeutet Unwiderrufbares.  Weil so wie im Staat, für den Schatzbildner und seine Geldgruppe das Gebot gilt:  „Politisch ist jedenfalls immer die Gruppierung, die sich an dem Ernstfall orientiert.“ (Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen)