Donnerstag, 24. Januar 2013

Sturz ins Glück


Ein Abgrund kann sich ziemlich schnell wieder auffüllen.  Aber Abgründe haben es in sich – ihr Wesen ist auf der Lauer zu sein.  Ein Abgrund ist immer auch etwas Plötzliches – eine unerwartete Erscheinung.  Es ist falsch sich zu fragen, wie alles so anders werden kann, so von einer Minute auf die nächste.  Wenn es nicht so wäre, wäre das so eben Eingetretene kein Abgrund.  Es gehört eben zur Definition und Beschaffenheit des Abgrundes, daß er alles plötzlich ganz anders macht (aber nur im vernichtenden Sinn).

Was ist es für ein Triebverzicht, wenn man für die Lust aus einem Zustand der Unlust plant?  Verzichte ich dabei auf die Lust der Unlust?  So wie ich zum Beispiel eine Reise nach Wien plane – die lustvolle Erwartung ist kein Moment meiner Überlegung.  Ich muß mich ‚rational’ daran erinnern, daß der Aufenthalt im komfortablen Hotel „mitten im Geschehen“ mir bestimmt Lust bereiten wird.  Die Reise selbst ist ein gewisses Regime so wie das Leben im Hotel – sich an ein fremdes Regime anzupassen ist nie lustvoll.  Nach der Lektüre von Adornos ‚Dekonstruktion’ der Psychoanalyse, womit die Stadt Wien sich so sehr brüstet, ist es schwierig die Stadt überhaupt als lustvoll zu betrachten.  Da bewachen der eiserne Mann und der mumifizierte Backenbart von Franz Joseph alle Eingänge und Ausgänge der Lust.  Da deckte Freud die verborgenen Quellen der Lust auf und schüttete sie zugleich wieder zu.  Der Lustgewinn der Analyse (des Analytikers) ist der gelungene Streich, solche verborgenen Quellen der Lust in die Zirkulationssphäre hereingezogen zu haben.        

Adorno verachtete die philosophischen Schriftsteller, die sich außerhalb des akademischen Betriebs verkaufen mußten.  Sie wurden zwangsläufig irgendwie ‚mystisch’, glaubten an irgendwelche Weltgeheimnisse – er hält sich zurück, Rudolf Steiner zu erwähnen – sagt aber, daß München ein Zentrum solcher „Unabhängigen“ vor dem Ersten Weltkrieg gewesen sei.  Da tummelten sich D. H. Lawrence, Frieda von Richthofen und Otto Gross frei-erotisch herum.  Bei D. H. Lawrence und Wyndham Lewis mündete dann ihre jeweilig hetero-erotische und homo-erotische Betriebsamkeit, Umtriebigkeit leicht im Faschismus – wobei paradoxerweise – Faschismus, oder genauer gesagt, der faschistische Werdegang der Massen, laut der populären Überlieferung – das Aufkommen einer Begierde in der Masse birgt, die die Unterdrückung ihrer eigenen Begierde begehrt...’ (Deleuze/Guattari).

Heutzutage sind die Institute und Universitäten gut genug auch die Organisation des ‚Mystischen’ und des ‚Erotischen’ selbst zu übernehmen.       



© Shannee Marks, January 2013







Dienstag, 22. Januar 2013

Kafka Spiegel Verkehrt


Kafka und Unfälle – und das Glas Labyrinth – das Gericht – mit der Kneipe „Prinzessin Louise“ vermengt/verknotet – bemerkenswerte Harem-Architektur, - was am nächsten erscheint ist am weitesten entfernt und hinter Spiegeln.  Da wohnen Prinzessinnen mit den Ober-Eunuchen zusammen.  Es tauchen animalische Münder in der Swedenborgischen Kommunikation von Engeln unter, kein Haar sieht hervor, ein verbotenes Fließen durch offene Gefäße. 

H.C. versteht leicht die irdische Seite von Kafkas Gericht – sogar sein widernatürliches Selbst-Verbergen, die unausgesprochenen (Feierabend, außeramtlichen, Liebhaber) Urteile und die Hinrichtungen hinter der Bühne (hinter den Kulissen, in der Nullgasse).  Er steht im Zwielicht der glänzenden Theke flankiert von zwei schmiegsamen Anhängerinnen – ihre Körper fließen/strömen/rinnen zu einer wiegenden Amphore zusammen.

Aber versteht er jenen Teil des Gerichts, der über das (über)irdische Gericht hinausragt, der davon abgebrochen ist, und möglicherweise alles überschwemmt?  Von jener Art Gerichtsbarkeiten scheint die ‚sicheh’ „Mitsammen“ von Reb Mendel von Kotsk zu handeln, die in Bubers Die Erzählungen der Chassidim zu finden ist:

“Der Kotzker Rabbi sprach: “Es heisst im Psalm: ‘Die Gerichte des Herrn sind Wahrheit, gerecht sind sie mitsammen.’  Du siehst in dieser Welt über den einen Menschen solch ein Gericht, über den anderen ein jedem scheinbar widersprechendes und du staunst und kannst es nicht begreifen, wie beides gerecht sein soll.  Aber in der kommenden Welt wirst du sie mitsammen sehn, und daß mitsammen sie gerecht sind.”” (Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich, 1949,  p. 783)

Auf der gegenüberliegenden Seite ist noch ein Text der der Vision Kafkas nahe kommt – „Der Herr der Burg“ – vielleicht schimmert auch im „Schloß“ Kafkas etwas von dieser irdischen-überirdischen Burg.  „Der Herr der Burg“ bezieht sich auf ein  berühmtes Gleichnis des Midrasch (Genesis rabba XXXIX)  - das Gleichnis spricht „(...) von einem, der unterwegs eine Burg in Flammen sah, ohne daß jemand am Löschen war, und dachte, das sei eine Burg ohne einen Verwalter, bis der Burgherr auf ihn niedersah und sprach: „Ich bin der Herr der Burg.“  Als Rabbi Mendel die Worte aussprach „Ich bin der Herr der Burg“, fiel auf alle, die dastanden eine große Furcht, denn sie empfanden alle: die Burg brennt, aber sie hat einen Herrn.“ (ibid., p. 782) 

Kafka ist gleichzeitig der Herr der Burg und der, der unterwegs ist und die brennende Burg sieht – und den Gedanken ausspricht – dies sei eine Burg ohne Verwalter.  Die brennende Burg ist der Dauer-Unfall als Weltengrund.  Herr der Burg ist aber nicht gleich der Verwalter der Burg.  Die Position oder Stelle des Verwalters bleibt auf ewig unbesetzt.  Der Verwalter wäre der Zuständige, derjenige der vom Amt her sich anstrengen müßte, den Brand zu löschen.  Das brennende Haus ist auch im buddhistischen Noh ein Gleichnis der Welt.  


 © Shannee Marks, January 2013