Montag, 6. Juni 2022

Nachglühen - High Noon in der Philharmonie


Berlin, 05.06.2022
 
 
 
Liebe El,


Es war ein zündendes Wiedersehen nach fast vierzig Jahren! mit Liz - zu Zweit und mit Dir als Teil des historischen Trios.  Eine vergangene Zeit, ein verschwundenes, verschüttetes Lebensgefühl ist wiederauferstanden - dank Deinem wundervollen Arrangement. Hooray für El und Dein Elixier!
Wo war das letzte Mal, dass wir alle drei  zusammen waren?? Vielleicht war es sogar das erste Mal!?

Ganz bestimmt - zum ersten Mal habe ich von euren früheren Abstechern im louche Milieu der Schumann’s Bar in München erfahren!  Wie habe ich bislang von Schumann’s Amerikanischer Bar selbst noch gar nichts gehört - wie konnte ich noch nie dort gewesen sein?!  Wenn es nur eine Schumann’s Bar in Berlin geben würde!  Die täglich bis 3 Uhr morgens auf hat und eine Spezialisten-Bar die sich ‘Les Fleurs du Mal’ nennt offeriert.  Jene libertine Tage von West Berlin sind für immer vorbei…  Schade dass ich keine Cocktails mehr trinke…

Auf jeden Fall - en tout cas - das Konzert läutete eine neue Ära ein - mit musikalischen Feuerwerken und einem lebenden Komponisten, der gerne mit seinem Publikum schäkert, plaudert und sich photographieren lässt.  Unsere Konzertabend-Reunion verstärkt den Glauben an die Langlebigkeit der Freundschaft und der ewigen Jugend. Wahrscheinlich sind sie fast la même chose.  Du hast dieses betörende Ereignis so schön inszeniert - alle Details - auch ungeplante - spielten mit: wie unsere gestaffelte Ankunft in der prallen Sonne mit dem Bus 200 - das Aussteigen auf dem großen leeren Vorplatz der Philharmonie - wie im Western wenn 3 Revolverhelden aus dem Zug in einer scheinbar leeren Stadt aussteigen (die ängstlichen Bewohner verstecken sich hinter ihren Vorhängen), eine Stadt, die ihretwegen im Begriff ist viel unsicherer zu werden.




Mir ist etwas ganz schlichtes zu Liz’s Bemerkung, ‚in Berlin wird nicht produziert‘ eingefallen. Berlin produziert sich selbst - oder das Produkt von Berlin ist Berlin même. Ist nicht ein solcher Konzert-Abend ein Produkt - es verkörpert sogar eine ganze Menge gesellschaftlicher abstrakten Arbeit von Musiker, dem Dirigenten, Saalbedienung, von einem Komponisten und zahlreichen Organisatoren.  Und Berlin tummelt mit Kultur Ereignissen dieser Art. Dennoch ist die sogenannte Wertschöpfung größer als die Summe der Elemente. Es wäre kurzsichtig nur Resultate der manuellen, mehr oder weniger Fabrikarbeit, als Produkte oder wertschöpfend zu begreifen. Außerdem gehört zur ‚Wertschöpfung‘ oder im Marxschen Lexikon ausgedrückt - zur Verwertung des Kapitals - die parasitär erscheinende Zirkulationssphäre alias alle Formen des Marketings.  Noch unfassbarer ist der bürgerliche ökonomische Begriff des ‚immateriellen Vermögensgegenstands‘ der per Definition quasi gegenstandslos ist.

Ich glaube, diese Klage gegen die Produktlosigkeit ist Überbleibsel einer uralten Debatte über die produktive und nicht produktive Arbeit.  Die Stimmung/der Rhythmus einer Stadt ist auch ein über allen singulären Ereignissen und Tempi schwebendes Wert-Produkt.

Bald werde ich versuchen meine Stimmung aufzubauen durch mein zweites Jogging in kurzen Hosen. Beim ersten Mal fühlte ich mich so exposed.  Es ist eine Sache in kurzen Hosen solitär durch den vereinsamten Berkshire Wald zu laufen - und eine völlig andere dies auf dem Catwalk der Großstadt Straße zu tun. Es war aber sehr schön, die Passanten gnädig gelaunt  - vor allem im Park. Ich habe meine Yoga Übungen auf der höchsten Stufe einer Kiefer umrahmnten Steintreppe in der glühenden Sonne gemacht - es war schon ein halbes Ibiza.  

Danach habe ich mitten in der Nacht den schwülstigen Tennessee Williams Film „Suddenly Last Summer“ angeschaut.  Nach der Szene in weiß glühender Hitze, worin ein infernalisches Rudel von zweibeinigen Strand-Hyänen, die auf selbstgebastelten Blechinstrumenten einen Höllenlärm schlagen, einem herzkranken reichen amerikanischen Schwulen hinterherjagen - bis sie aus ihm auf einem hoch liegenden ritualen Altarplatz - in der hämmernden Sonne, mit der hämmernden Blech-Musik -  Menschen-Tatar machen - da vergeht Dir der Appetit auf einen südländischen Strandurlaub auf ewig.  Dabei kam mir noch ein störender Gedanke hinzu - hätte Kafka nicht seine Geschichte statt “Schakale und Araber” - “Hyänen und Araber” nennen sollen?  Nur Hyänen formen solche monumentale Fress-Gewimmel, wie es in Kafkas Geschichte vorkommt.





El Baby! - in other words, ich kam von unserem epochalen Wiedersehen äußerst erfrischt und beschwingt zurück. Es hat mir wieder soviel Mut und Kühnheit eingeflößt - dass ich mich wage zu einem Theaterstück im JVA Tegel zu gehen. Jürgen, der exDDR Regisseur, hat mich viermal! darauf angesprochen. Ich wollte gar nicht - pas du tout! - die „Hermannsschlacht„ sehen. Das Stück war sehr groß im dritten Reich - es galt als das „Führerstück“. Jetzt wird es von Gefängnis Häftlingen im Gefängnis gespielt. Aber darüber lässt sich bestimmt etwas interessantes zum Theater und ‚Transclasse‘ schreiben!


Bei der ganzen Aufregung habe ich vergessen Dir das Geld für die Karte zu geben. Kann ich das bei unserem nächsten Abenteuer nachholen?

 


Auf in die nackte Sonne,



 

Hot hugs and kisses von dem Asphalt Dschungel,
Shannee

 

 

 

 

 

 

Mittwoch, 20. April 2022

Potsdamer Fernfahrer Glück



Berlin, 18.08.2021




Liebe R.,

Wo bist Du? Was machst Du? Wie war Fabian?  Es sind nur knapp 6 Tage seit unserem wonnigen Sommer-delices in ‘silent green’ und dessen  Friedhofsdeko und schon kommt es mir wie 6 Monate vor. Wahrscheinlich ist diese Zeit-Täuschung eine Reflexion der Intensität und Dichte unseres Gesprächs.  Unter leisen Entzugserscheinungen führe ich silent talks im Kopf mit Dir.  Bist Du auf Modeschau in Mailand?

Wir befinden uns jetzt im zweiten Tag der historischen Ausladung unserer England-Jahre im  Potsdamer Myplace.  

 


Es läuft ziemlich glatt - ganz gegen meine Befürchtungen.  Langsam löst sich der Zwangsgürtel von meinen Eingeweiden, dass den Namen Matthew James Global trägt.  (Meine Erwartungen fangen an sich zu erfüllen - wir mussten im letzten Augenblick noch ein Lagerungs-Abteil mieten - und die Möbelherren drängen heute Nacht bis 10 Uhr alles fertig zu kriegen…)
Die Photos geben Dir einen Hauch von 'Englandiana' wieder - mit seinen klassenlosen Vorlieben für Ritterorden, Krieg und Kostümdramen.  Der Fahrer hat die Templar-Ritter und Lancaster Bomberflugzeuge erst gestern auf seinen blanken Wagen in Polen aufmalen lassen.  “All our lorries are spray painted in Poland.” sagte er.  Er fuhr die ganze Nacht durch und half ohne Schlafpause den Wagen auszuladen.  Außer Umzügen fährt er die Lastwagen für alte Vintage Rockgruppen wie Deep Purple, ACDC und Sting auf ihren wochenlangen Tournees.  Diese Dualität ist typisch englisch - die Kombination von profanem Broterwerb und dem heiligen Pop.  Dave hat mir bereitwilligst alle seine Tätowierungen gezeigt - einschließlich des schwertschwingenden Samurais auf seinem Rücken.

 


 

Wir wollten wieder im Café Heider essen gehen - aber es gelang irgendwie nicht.  Stattdessen liefen wir im Holländischen Viertel und am Platz der Einheit herum.  Die Blumenbeete und Bepflanzungen um die abgeschirmten Sitzrondelle im Park erinnerten mich leicht an Hyde Park/Kensington Park.  Der Ort strömt eine gewisse Ruhe aus - ohne einschläfernd zu sein.  Auf jeden Fall habe ich die spätblühenden Verbenas mit den vielen purpurnen Köpfen an dünnen gespreizten Stängeln wiedererkannt.  Diese Pflanze haben wir in unserem ehemaligen englischen Garten auch gehabt.  Sie blüht spät und ragt über die Reihen des Verblühten hinaus.  
Es war zu spät für irgendwelches Restaurant-Essen - stattdessen haben wir es uns auf einer Bank am S Bahn Gleis 7 gemütlich gemacht - tranken eine vorzügliche Choco-Latte und aßen eine köstliche Sonnenblumen Brezel von Ditsch.

Ich habe im  Signal von letzter Woche gesehen, dass eine Sendung unserer Selfies an Dich gefailed hat - so schicke ich Dir für alle Fälle nochmals das ganze ausgewählte Photoshoot per email.  Signal ist mir zu jumpy dafür.

Träum süß von Pollenwolken über Grass-Seen,

Ich hoffe heute Nacht den Rücken von Matthew James endgültig gesehen zu haben,

Gruß und Kuss und sanfte Wiegenlieder,
Deine
Shannee




 


Sonntag, 17. April 2022

Wassermann am Plötzensee


 

Berlin,9.08.2021


Liebe R.,

Es beglückt und beruhigt mich zugleich, dass Dir mein neuer Eddie Look gefällt. Jetzt, fast eine Woche danach, sieht das Haar schon mehr ‚lived in‘ aus. Aber mir gefällt das eigentlich lieber.  

Gestern beim Jogging (zum zweiten Mal) nach Plötzensee ist mir eingefallen was BH bedeuten könnte - steht es für ‚Bayerisches Hochgebirge‘?

Am Plötzensee selbst ist mir etwas eigentümliches passiert. Wie aus dem „Sommernachtstraum“ hat mir ein fast unsichtbar  dunkelhäutiger genius loci in menschlicher Gestalt aus dem Wald von hinter dem Absperrungszaun her am See Ufer zugerufen: Ich sollte ins Wasser gehen - ob ich ihm nicht unten in seiner Nische am Ufer kurz Gesellschaft leisten würde. Ich ließ mich nicht ohne Bedenken überreden. Er musste mich über die Sperre heben. An seinem geheimen Platz direkt am Wasser hatte er seine Hängematte zwischen zwei Bäumen angebracht und wie er mir sagte, dort verbringt er den ganzen Sommer. Eine ziemlich karge Robinsonade. Das ganze Erlebnis hatte etwas Antikes, als wäre man am Nilufer und zugleich war es wie eine Vision aus einem Gemälde von Henri Rousseau - der schöne Panthermensch im Urwald.  Es stellte sich heraus  - er ist ein Ägyptischer Nubier aus Hurghada am Roten Meer.  Die Seen in Berlin scheinen viel merkwürdiges aquatisches und quasi aquatisches Leben an sich zu locken.

"Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt."      Der Panther,
Rilke


Ich freue mich sehr auf unseren ‚silent green‘ Besuch und vor allem auf Dich.
Ich ruf Dich heute später an - vielleicht können wir schon die Zeit ausmachen? Vielleicht Donnerstag etwa um drei-vier Uhr?
Machen wir gemeinsam einen schönen Urlaub in Berlin!
 
Bis bald in Wedding,
Hugs and kisses,
Byeeeeeeeeeeeeee (mit Gebirgs-Echo)
Deine,
Shannee 

PS. Ich habe gerade Deinen Anruf verpasst. Rufe gleich zurück.