Dienstag, 26. Januar 2010

Das Defätistische Objekt



1.  In der sichtbaren Verwahrlosung von Gegenständen und Orten wendet sich Accidia nach außen.  Sie ist erfinderisch im Schaffen von Plätzen für sich im Freien, von Ausgängen und Ausflüchten.  Ihr Instrument ist das Wunder des Tunlosen Tuns.  Nach außen gekehrt verselbständigt sich Accidia im defätistischen Objekt.  Deshalb ergreift uns der Anblick von Ruinen – wir ahnen die unbezifferte Menge nachlassender menschlicher Kräfte die dazu geführt hat.  Die Verwahrlosung ist gleichzeitig eine Aktion und ein Zustand – beide negativ.  Die Aktion ist die Aufgabe (Preisgabe), man lässt sich und das Objekt gehen.  Beides geschieht gleichzeitig.  Die Verwahrlosung ist die verkleinerte allmähliche Form der Ruine, die Weise in der sie fortschreitet.  So bewegt sich die Ruine sich selbst entgegen.  (Der Anblick von ‚menschlichen Ruinen’ erregt eher Mordgelüste.  Der nach dem Leben seiner Frau trachtenden Schuldirektor in Clouzots Film „Les Diaboliques“ verhöhnt sie als „la petite ruine“.)


Die Ästhetik ist eine Art Ruine oder Zerfallserscheinung der Ontologie.  Sie zersetzt das ‚Ontologische’ des Objektes.  In dem Maß wie das Objekt von sich selbst Abschied nimmt, so wird es ästhetisch.
Im Ästhetischen verdreht sich das Negative in ein Positives.  Weil das Negative keine Seinskategorie sondern eine Bestimmung des ästhetischen Objektes geworden ist.  Das Ästhetische entsteht wo der Widerstand des prä-ästhetischen amorphen Objekts zerbröckelt, zerfällt.  Wo das Objekt defätistisch wird – dort fängt es an ästhetisch zu werden.  So gesehen ist die ‚Logik des Zerfalls’ (Adorno) eine Ästhetik. 


In einem stillgelegten Blog („The Gay Recluse“) entdeckte ich Bilder von einem ‚Geister-Pittsburgh’.  Gezeigt wurden die ‚mystischen’ Reliquien einer bescheidenen Glückskonjunktur, als an den Durchgangstraßen billige Grill-Restaurants, Motels, Drive-Ins, Kegelbahnen und Verleihgeschäfte eine Weile gewinnbringend betrieben worden waren.  In den Bildern sieht man noch die Reklame-Schilder an ihren hohen dunklen Stangen hängen – die eigentlichen ‚Geister’ - mit ihren fehlenden oder halb-zerstörten Buchstaben, undefinierbaren Flecken und abblätternden Farben - die Grabinschriften, – die gelblich verrußten Backstein Häuser im Hintergrund aus denen das wilde Gras sprießt - die Mausoleen.  Übriggebliebene Telefon Leitungen verbinden nur noch zur Unterwelt. 


Warum sind solche Ruinen-Bilder auf einmal ästhetisch?  Wahrscheinlich zu ihren guten Zeiten waren die lebenden Geschäfte schäbig und ordinär gewesen - wo man nur schlechtes Essen, misstrauische, scheele, aufdringliche Blicke, eine mürrische Bedienung, lauwarmen Kaffee und ein nie bis zum Rand gefülltes Glas Bier erwarten konnte.  Geister sind solche Orte nur im technischen Sinn – jene Szenen sind eigentlich entseelt.  Sie sind Landschaften wo der Weltgeist, in seiner hiesigen Hauptform als Kapital, schon lange weggezogen ist.  Jeder Hauch von Ereignis hat aufgehört zu wehen.  Die Betrachtung solcher Gegenden, wo die unermessliche Entfernung des Weltgeists sichtbar wird, macht melancholisch – daher die Notwendigkeit des Bild-Fetisches – um die Erlösung selbst als Abwesenheit qua Fetisch wieder in unmittelbare Nähe zu rücken.  Jedes „Willkürliche, Zufällige, Individuelle“ kann als Fetisch dienen und gleichzeitig sich selbst sein – „(...)unser Weltorgan werden - ‚Epoche’ in unserm Innern machen -  Dies ist der große Realism des Fetischdienstes.“ (Novalis, Neue Fragmente 259, in: Werke und Briefe, Stuttgart, 1962, S.459)



2.  Die in defätistischen Gegenständen und Szenen aufgehobene Accidia ist überall zu sehen.  Der Fortschritt des Zerfalls verläuft aber nicht geradlinig.  Er schließt Reparaturen, vorübergehende Auffrischungen nicht aus.  So werden die Verwahrlosung, und der damit verbundene Rückzug des Willens, nur umso deutlicher.


In einer deutschen Kurstadt wo die Zermürbung gleichsam in ihrer ‚Champagner Luft’ liegt, schaute ich vom Balkon eines Kurarztes in einen halb luxuriösen Garten hinunter.  Man konnte den Garten von einer Treppe aus erreichen.  Rechts war eine hohe Hecke und Mauer.  Sie schirmten den Garten von der Hauptstraße ab.  Etwas links vom Balkon war eine gepflasterte Terrasse, die Fliessen sahen ausgesucht aus, alt, restauriert.  Ein viereckiges Steinbecken mit Wasser, eine Marmorplatte auf einem gusseisernen Fuß.  Eine Plastikflasche (wahrscheinlich ein Putzmittel) stand darauf.   Ganz in der Ecke befanden sich ein Teich und eine Grotte.  Irgendwo floss Wasser.  Eine Korbschaukel stand im Schatten eines Baumes.  Der Rasen um den Teich und Baum war weggescharrt – gelbe rissige Erde.  Auf einen sandigen Platz  jenseits der Terrasse standen verwitterte Holzgestelle.  Auf den Gestellen  -  zwei Terrakotta Säulen.  Ein Mann schliff an einem schwarzen Sockel.  Er war dünn.  Eine Veränderung am Sockel war aus der Entfernung nicht zu erkennen.  Wo die Sockel hingehörten war auch nicht erkennbar.  Er bemerkte, dass ich ihm bei der Arbeit zuschaute.  Es war schwer zu sagen, ob er ein Handwerker oder der Besitzer dieses restaurierten Hofes war, der schon wieder verwahrlost aussah.  Obgleich dieser Eindruck sich auf nichts Bestimmtes zurückführen ließ.  Vielleicht war es wegen der unpassenden Plastik Gartenstühle neben der auf der Erde quer liegenden Säule?  Das Gefühl, dass selten um diese Grotte oder auf der Terrasse gesessen wurde?








Sonntag, 10. Januar 2010

Auf Wolken Ruhen (Zweierlei Accidia) I



Wenn die heroische Leidenschaft greift, hebt, antreibt und zusammenbindet, ist die Anti-Leidenschaft Accidia der Gemützustand was dem Alkahest am nächsten steht – dem alchemistischen Universalmittel der Auflösung. Was aufgelöst wird ist die Bewegung im Innern wie im Äußeren. Der Mensch neigt sich der Ruhe der anorganischen Welt zu - der Ur-Trägheit. Demnach sollte man die Accidia nicht als ein Laster sondern als einen Naturzustand betrachten – da wo der Mensch seine Zugehörigkeit zur physikalischen mechanischen Welt am deutlichsten aufweist. So könnte man Boschs Darstellung der Accidia als eine der sieben Todsünden ebenso als eine Fibel des Trägheitsgesetzes benutzen. (Goethe hat doch die quadratischen Liebesverhältnisse in „Die Wahlverwandtschaften“ als chemische Verbindungen und Lösungen geschildert – somit hätte er eigentlich auch die Liebenden von aller Schuld und Sühne freisprechen sollen – aber nirgends ist die absolute Logik am Werk.) Wie überall im Leben, nicht nur im Mittelalter, bedarf der Mensch theatralischer, mythischer Umhüllungen der Naturgesetze, vor allem wenn er selbst bloß ein solches Gesetz ist.


Noch dazu ist Accidia besonders schwer zu erkennen. Ob in der Seele oder in der Physik verwurzelt, ist sie schlichtweg die Abwesenheit von ‚Stimmung’ - sie ist die Befindlichkeit der Nicht-Befindlichkeit. Sie passt sich überall dort an, wo es besonders friedlich und aufgeräumt zugeht. Aber selbst mitten in Betriebsamkeit, die insgeheim nur dem rhythmischen Aufschub der jeweiligen Hauptsache dient, lauert auch Accidia. Sie ist selbst Rhythmus, der laut Novalis sich überall, in alle menschlichen Tätigkeiten qua ‚Musik der Gewohnheit’ einschleicht. „In allen Handwerken und Künsten, allen Maschinen, den organischen Körpern, unsern täglichen Verrichtungen, überall: Rhythmus, Metrum, Taktschlag, Melodie. Alles, was wir mit einer gewissen Fertigkeit tun, machen wir unvermerkt rhythmisch. (...) Sollt es bloß Einfluß der Trägheit sein?“ (Neue Fragmente 261 in: Novalis, Werke und Briefe, Stuttgart, 1962, S.457)


Aus der Perspektive der Theater-Psychologie, (die Psychologie der Lebens-Oberfläche), befindet sich Accidia in der Rangordnung der Gemütsverstimmungen noch unterhalb der Melancholie, sogar niedriger als Ennui, weil ohne deren dekadente Verfeinerung, jedoch beiden verwandt. Sie ist die Flucht vor dem Wesentlichen. Obgleich Accidia eher eine plebejische Bewandtnis hat, jene Flucht verschont keine Gesellschaftsklasse. Gerade die oft nacherzählte Geschichte von Fürst Potemkin, Günstling Katharinas, Zarin von Russland, zeigt wie Accidia auch den Gipfel der Macht erbarmungslos befallen kann. Walter Benjamin beginnt seine Abhandlung über Franz Kafka mit dieser Anekdote des vor sich hin dämmernden Fürsten. Der Kanzler Potemkin zieht sich wochenlang in sein Schlafzimmer zurück, lässt niemand zu sich und unterschreibt keine Staatspapiere. Ein gutgläubiger, diensteifriger Sub-Kanzlist namens Schuwalkin bietet sich den Staatsräten an die erwünschten Unterschriften einzuholen. Er tritt in das hoheitliche Schlafzimmer ein, ohne anzuklopfen, reicht Potemkin, der in einem „verschlissenen Schlafrock“ ungekämmt und Nägel kauend am Bettrand sitzt, eine Akte nach der anderen. Er unterschreibt alles widerstandslos, die Akten auf seinen Knien stützend. Wenn der Kanzlist zu den Ministern mit den unterschriebenen Staatsakten jubelnd zurückkehrt, stellt sich heraus, dass sie alle mit den Namen „Schuwalkin“ unterschrieben worden sind. Merkwürdigerweise, als Ernst Bloch dieselbe Geschichte in „Spuren“ nacherzählt, nennt er den kleinen Beamten Petukow. Der in der ‚Melancholie’ namenlos gewordene Potemkin heißt schlicht Jedermann.


So sehr ist dieser Fall ein Standard der Theater-Psychologie geworden, dass sie sich von ihrer Herkunft gelöst hat. „Es wird erzählt...“ schreibt Benjamin, ohne die Quelle anzugeben, - obgleich die Geschichte von Puschkin stammt. Für Benjamin ist jener Potemkin ein Prototyp des trägen, verwahrlosten, versunkenen dennoch, gerade aus diesem toten Punkt heraus, mächtigen Gewalthaber oder Gesetzgeber – ein Grundtyp in Kafkas „Welttheater“.


Das Gemälde von Bosch zeigt einen schläfrigen Mann, der vor dem Kaminfeuer sitzt. Sein Kopf und Hals sind von einer Haube vollkommen bedeckt. Die eine Hand versteckt er im Rock. Ein Kissen im Rücken nimmt ihm fast die Hälfte des Sitzes weg. Das Buch hat er auf der Bank beiseite gelegt. Sein Hund schläft zu seinen Füßen. In vielen Bildern vom ‚Hl. Hieronymus im Gehäus’ (von Cranach d. Ä, Dürer, Vincenzo Catena u.a.) schläft ein Löwe zu Füßen des Meisters; er selbst ist hell wach. Obgleich man die Accidia auch das „Mönchslaster“ genannt hat. Sie überfällt mit Vorliebe jene, die von ihrer göttlichen Berufung überwältigt sind. In Boschs Bild der Accidia ruhen beide Tiere. Die Szene sieht still und geruhsam aus, aber in sich verdorben. Dieses Ruhen bringt keine Erholung des Geistes. Es ist die vergebliche Suche nach dem Ausweg aus der Verwirrung. Eine Nonne mahnt den Mann zu seinen religiösen Exerzitien – sie reicht ihm den Rosenkranz und das Gebetbuch. Wobei gerade diese Tätigkeiten, Nietzsche zufolge, den Sündigen noch tiefer in die Arme der Accidia oder untätigen Ruhe treiben würden. „Die Religion will von Solchen eben nicht mehr, als dass sie Ruhe halten, mit Augen, Händen, Beinen und Organen aller Art: dadurch werden sie zeitweilig verschönert und – menschenähnlicher!“ (Nr 128. Der Werth des Gebetes. in „Die Fröhliche Wissenschaft“, München, 1988, S. 484)


Auf dem Dorf ist die Accidia wenn nicht verbreiteter als in der Stadt, wenigstens leichter zu erkennen. Im Bäckerladen, redete Stephan der Dorf Bäcker, mit Ruß auf der Nase, auf „Mary“ die Verkäuferin ein. Sie würde gerne nicht arbeiten müssen. Er fragt, „was willst Du in der Stube hocken? Die Matratze durchliegen. Mit 40 bist Du dann kaputt. So bist Du erst mit 50 kaputt.“ Sie will schlafen. Wahrscheinlich war sie spät von der Disco nach Hause gekommen. Wenn man Samstagmorgen hinter den Streuselkuchen stehen muss, schwebt das Bett, wie der Heiland in Boschs „Heuwagen“, über den Wolken – unerreichbar und mit allen Farben der Erlösung geschmückt. Diese Vorstellung ist schon der Anfang der Accidia.