Montag, 19. April 2010

Das Periodensystem der Elemente


Strindberg riskierte seine Gesundheit, seinen Ruf, sein eheliches Glück, er erlebte Wahnsinn und Verachtung um beweisen zu können, dass Schwefel in noch elementareren Einheiten auseinander zu brechen ist.  Er irrte.  Oder wenigstens im Periodensystem der chemischen Elemente hat Schwefel immer noch die Kernladungszahl (Ordnungszahl) 16.  Was ist die Beschaffenheit eines solchen analytischen Triebes - gegen die Elemente selbst ankämpfen zu wollen?  Warum wollte er zeigen, dass das Ur-Element Schwefel aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff besteht?  Die Analyse duldet keinen Stillstand, kein Ende, keinen Punkt an dem es heißt, man müsse aufhören.  Lieber schneidet der Analytiker sich selbst auseinander (so wie Van Gogh sein Ohr analysierte) als das Analysieren abzubrechen.  Strindberg verlor beinah seine Hände bei seinen Schwefel Experimenten.  Der Analytiker will hinter die Dinge kriechen; wo andere nur Oberfläche ohne Fenster oder Öffnungen sehen, findet er lauter Abgründe.  Wie verhält sich dieses Gemüt (diese Veranlagung) der Behauptung Poes gegenüber, die Wahrheit sei an der Oberfläche, nicht in der Tiefe zu finden?  Und dass man weniger sehe, wenn man sein Auge auf einen Gegenstand direkt richte, sowie auf einen Stern, als wenn man ihn nur seitlich streife?

Der Erpresser merkte nichts vom Toben der Elemente – dem Regen, dem Wind, der Masse, dem fehlenden Schnee.  Er befand sich in der beneidenswerten Lage so von seiner Aufgabe durchdrungen gewesen zu sein, dass es nur in seinem Inneren Wetter gab.  Er fragte nicht nach dem Sinn des Seins.  Man kann diese Frage nur stellen wenn ein Sinn nicht vorhanden ist. 
(Strindberg stellte die Frage nach dem Sinn von Schwefel – kam aber nicht weiter.)

Heidegger dagegen meint, wenn man diese Frage nicht stelle, schließe man sich selbst von Dasein aus.  Anders gesagt, man ist unfähig diese Frage nicht zu stellen, weil es zum Charakter von Dasein gehöre gerade diese Frage immer schon gestellt zu haben.  Er antizipiert den Vorwurf des Zirkels, lenkt die Aufmerksamkeit auf einen anderen Zirkel, den er leicht entkräften kann.
Den Zirkel, auf den Heidegger wie ein Zauberer hinweist, ist eher logisch, impliziert nur formelle Mängel der Deduktion –wie wenn man die Antwort auf eine Frage als Grundlage des Erörterns von eben derselben Frage voraussetzt.  Seine Untersuchung baue sich aber nicht in herkömmlicher Weise auf Prinzipien auf, sie ist eine „konkrete“ – deshalb kann er leicht jene „formale(n) Einwände“ selbst ansprechen.  „Die ausdrückliche und durchsichtige Fragestellung nach dem Sinn von Sein verlangt eine vorgängige angemessene Explikation eines Seienden (Dasein) hinsichtlich seines Seins.
Fällt aber solches Unterfangen nicht in einen offenbaren Zirkel?  Zuvor Seiendes in seinem Sein bestimmen müssen und auf diesem Grund dann die Frage nach dem Sein erst stellen wollen, was ist das anderes als das Gehen im Kreise?  Ist für die Ausarbeitung der Frage nicht schon „vorausgesetzt“, was die Antwort auf diese Frage allererst bringen soll?“ (Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 1986, p. 7)

Es liegt dennoch ein ‚Zirkel’ vor – der Zirkel des Fragens.  Jene Voraussetzung des Fragens, als ontologisch-vorontologische Bestimmtheit des Daseins ist der eigentliche Heidegger-Zirkelbeweis.
Heidegger nennt sein einleitendes Kapitel „Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein“.  Jene Frage, die er zum Gegenstand der gesamten Untersuchung hervorhebt, ist schon ein Teil des unbekannten Seins, das untersucht werden sollte  - wobei Heidegger  ohne Begründung die Frage nach dem Sinn des Seins und die Frage nach dem Sein vermengt.  ‚Sinn des Seins’ wiederum, in Heideggers Sprachgebrauch, schwankt unaufhörlich zwischen etwas fast Faktischem, ‚Konkretem’, Phänomenologischem und etwas nur Sprachlichem, der Erläuterung eines Begriffes.

Noch mehr, das Fragen dieser Frage nach dem Sein oder Sinn des Seins ist das Besondere am Dasein – macht Dasein zu einem immer schon ontologischen Charakter.  Dasein ist selbst eine ‚wilde’ Ontologie – eben weil es diese Frage in seinem Sein zwangsläufig mitführt.  So ist Heideggers Untersuchung nur deshalb ‚konkret’ – weil er ein ‚faktisches’ Dasein als eine sich selbst untersuchende Untersuchung voraussetzt.
„Das Fragen dieser Frage ist als Seinsmodus eines Seienden selbst von dem her wesenhaft bestimmt, wonach in ihm gefragt ist – vom Sein.  Dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein.“ (ibid.)
Wenn Dasein immer schon die Frage nach dem Sinn des Seins gefragt haben müsste,  wie kann diese Frage, wie Heidegger am Anfang seiner Untersuchung  bedauert, „in Vergessenheit gekommen“ sein?  Wenn während der ganzen Zeit seit der Ontologien der Antike, bis nach Heidegger gelebt wurde, ohne diese Frage gestellt zu haben – dann würde es heißen, dass während dieser Zeit Dasein im Heideggerschen Sinn nicht existiert hat.  Demnach ist Heideggers Dasein-Begriff nicht überzeitlich, sondern historisch spezifisch.   

Adorno findet den Heideggerschen Zirkel in den ‚konkreten’ Welt-Verhältnissen wieder – im Kreditsystem, das selbst wie ein Zirkelschluss funktioniert:  „Heideggers Philosophie, bei aller Aversion gegen das von ihm so genannte Man, dessen Name die Anthropologie der Zirkulationssphäre denunzieren soll, gleicht einem hoch entwickelten Kreditsystem.  Ein Begriff borgt von anderen.  Der Schwebezustand, der damit sich herstellt, ironisiert den Gestus einer Philosophie, die so bodenständig sich fühlt, (...) Wie nach einem verblichenen Witz der Schuldner gegenüber dem Gläubiger im Vorteil sich befindet, weil dieser davon abhängt, ob jener zahlen will, so rinnt für Heidegger Segen aus allem, was er schuldig bleibt.  Daß Sein weder Faktum noch Begriff sei, eximiert es von Kritik.“ (Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, 1982 pp. 83-4)

Obgleich Wittgenstein wie Heidegger die Metaphysik ‚beerdigen’ wollte, hatte er eine entgegengesetzte Einstellung zum Fragen.  Seine Strategie ist die Philosophie zu ‚beruhigen’ – die Unruhe der Philosophie ist ein Ergebnis ihrer Neigung überflüssige Fragen zu stellen, auch über sich selbst.  So heißt es in Paragraph 133 der „Philosophische Untersuchungen“:  „Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Philosophie zur Ruhe bringt, sodaß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen.“ (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Stuttgart, nach der Oxford Ausgabe von 1958, p. 347)  So gesehen, ist Heideggers Dasein, jener Charakter der sich selbst in Frage stellt auf der Suche nach dem Sinn des Seins, eine verschlüsselte Figur der Philosophie.  Sein ontologisch-vorontologisches Wesen - der Philosoph.  Vielleicht der Grund weshalb Heideggers „Daseinsanalytik“ in einer aporetischen Statik aus das Man, Inbegriff der fraglosen Durchschnittlichkeit und Dasein verfällt?  „Sein jedoch , das kein Begriff oder ein ganz besonderer sein soll, ist der aporetische schlechthin.  Er transformiert das Abstraktere ins Konkretere und darum Wahrere.“ (Adorno, op. cit.)

Badiou, der sein ontologisches System von Heidegger ableitet, hat das Fragen mehr oder weniger abgeschafft.  Für ihn gibt es keine Notwendigkeit der Frage nach dem Sinn von Sein.  Dasein hat er auch beseitigt, stattdessen herrscht „das Generische“ – was den früheren Platz des Man übernimmt.  Weder die Heideggersche Frage noch der Fragestellende ist übrig geblieben.  Die Ontologie ist nur noch eine Antwort – ‚Sein = Mathematik’. 

Der Erpresser wirft sich auf das fremde Leben.  Er entdeckt darin was verdeckt bleiben sollte – hebt das Verdeckte an die Oberfläche.  Er arbeitet kontra-analytisch.  Er eliminiert die Tiefe, statt von ihr geschluckt zu werden.  Vorher führte das Objekt der Erpressung ein Doppelleben oder wenigsten ein Leben und ein Rest-Leben.  Aber das ‚Überschuss’ Leben ist nur Schein.
Alles gehört doch zu einem Leben.  Nur weiß die Allgemeinheit davon nichts.  Alles hat die Erscheinung von Oberfläche.  Ist das Verdeckte der Sinn des offen gelegten Teils oder umgekehrt?  Der Erpresser reiht seine Photographien aneinander, schneidet die abgelauschten Gespräche zusammen, ordnet seine entwendeten Briefe.  Er betreibt seine Arbeit ohne daraus einen Sinn entstehen lassen zu wollen.  Eine Übermacht? Einen Profit vielleicht?  Ist Profit ein Sinn?  Gibt es nur einen Sinn?  Kann es nicht eine Vielfachheit von Sinn geben?  Die Rekonstruktion eines Lebens, dass vermutlich genauso gelebt wurde  ist die pure Verdoppelung.  Kierkegaard würde diese Verdoppelung eine Wiederholung nennen.  In der Rekonstruktion liegt schon ein zweites wenn nicht schon ein drittes Leben.  Das Leben des Konstruktors.  An seiner Konstruktion (seiner Schöpfung) selbst hat sich nichts geändert.  Vieles wird er nie wissen.  Dieses gesteht er sich niemals ein  – er muss an seinen eigenen Mythos der Allwissenheit glauben.  Er betrachtet seine Konstruktion als nur so alt wie seine eigene Teilnahme daran.